Ungestümer Intellektueller will Afghanistan versöhnen

Kabul · Der renommierte Intellektuelle und mögliche nächste Präsident Afghanistans, Aschraf Ghani, beschreibt sich selbst als „Freigeist“. „Ich habe vor zu reisen, ich bin ein Freigeist, der nicht in einem Palast eingeschlossen bleiben kann“, sagte kürzlich der 65-jährige frühere Finanzminister und Weltbankexperte zu seinen Plänen als Präsident.

Wie die Wahlkommission gestern bekanntgab, hat Ghani mit 56,4 Prozent vor seinem Rivalen Abdullah Abdullah gute Chancen, tatsächlich in den Präsidentenpalast einzuziehen.

Bei der Präsidentenwahl 2009 war Ghani noch abgeschlagen auf dem vierten Platz gelandet, doch gewann er seitdem deutlich an Statur und kam im ersten Wahlgang im April mit 31,6 Prozent hinter Abdullah auf den zweiten Platz. Im Wahlkampf versprach der 65-Jährige, der mit dem Koran als Wahlsymbol antritt, den Ausbau der lokalen Infrastruktur. Bei seinen Wahlkampfauftritten begeisterte der für seinen ungestümen Charakter bekannte Politiker durch seine temperamentvollen Reden, bei denen er scharfe Angriffe mit Scherzen mischte. Über Rückhalt verfügt der Paschtune, der jüngst vermehrt mit Turban auftritt und seinen Stammesnamen Ahmadsai verwendet, vor allem im paschtunischen Osten und Süden des Landes. Um auch bei den ethnischen Minderheiten im Norden zu punkten, wählte Ghani vor der Wahl den Usbeken Raschid Dostum zu seinem Stellvertreter. Die Ernennung des einstigen Kriegsherren brachte Ghani jedoch scharfe Kritik ein, da Dostum für schwere Verbrechen nach dem Sturz der Taliban verantwortlich gemacht wird. Ghani selbst ist unbelastet durch die Kriegszeit, da er das Land bereits 1977 vor dem Einmarsch der Roten Armee verließ.

In den 1980er Jahren erwarb er sich internationales Ansehen als Akademiker, als er an mehreren US-Universitäten Politikwissenschaft und Anthropologie lehrte. Im Jahr 1991 wechselte er zur Weltbank . Erst nach dem Sturz der Taliban im Zuge der US-geführten Intervention 2001 kehrte er nach Kabul zurück und diente dem UN-Gesandten Lakhdar Brahimi als Sonderberater. In der Übergangsregierung von Präsident Hamid Karsai war er von 2002 bis 2004 Finanzminister , später leitete der für seine scharfe Zunge bekannte Politiker die Nationale Sicherheitskommission. In dieser Rolle überwachte er die Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die Afghanen. Im Fall seiner Wahl hat er versprochen, das Sicherheitsabkommen mit den USA zu ratifizieren. In einem Interview sprach er sich zudem für die Aussöhnung mit Pakistan aus. Darin liege ein Schlüssel zu mehr Stabilität in seinem Land.

Die Stabilität erscheint jedoch durch den Streit um die Wahl derzeit akut gefährdet. Nachdem kurz nach der Stichwahl Berichte aufgetaucht waren, wonach Ghani vorn liege, warf Abdullah ihm, Karsai und der Wahlkommission vor, die Abstimmung zu Ghanis Gunsten manipuliert zu haben. Der frühere Außenminister Abdullah, der mit 13 Punkten Vorsprung in die zweite Runde gegangen war, führte zuletzt tausende Anhänger zu einem Protestmarsch durch Kabul . Dass er nach der Verkündung des vorläufigen Ergebnisses klein beigibt, erscheint unwahrscheinlich.

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