Leitartikel Warum Europa im Iran jetzt Flagge zeigen muss

Wohin die Reise geht im Iran, liegt vorerst noch im Dunkeln. Vorsichtshalber haben die Mullahs bereits das Ende der Proteste kolportiert. Zum einen wohl aus Furcht, die nach Beendigung der Sanktionen wieder- oder neugewonnenen Investoren könnten sich verschreckt zurückziehen. Zum anderen fährt das Regime damit nach innen eine bewährte Demoralisierungs-Strategie nach dem Motto: Der Kampf ist schon verloren, bleibt also zu Hause. Die vom Klerus gesteuerten Gegendemonstrationen sollen dabei unterstützend wirken. Ein durchsichtiges Ritual also, ähnlich wie der Versuch, die Zahlen der Teilnehmer nach unten zu frisieren.

ÜS
Foto: SZ/Robby Lorenz

Noch sieht es nicht danach aus, als seien die Unzufriedenen so schnell zu bremsen. Die Proteste  breiten sich vielmehr im Unterschied zur „Grünen Revolution“ vor zehn Jahren eher in den Provinzen als in den Großstädten aus. Zudem geht die Bewegung diesmal nicht in erster Linie von Intellektuellen aus, sondern von Mitgliedern unterer Gesellschaftsschichten, die sich gegen einen Subventionsabbau auflehnen, der ihnen bislang das Überleben sicherte. So scheint es sich vor allem um den Widerstand derer zu handeln, die nichts zu verlieren haben. Ihr Kampf könnte indes weit zäher und ungezügelter verlaufen, als manche es derzeit vermuten. All das macht die Lage für das autoritäre Regime – das freilich mit brachialer Gewalt durchzugreifen versucht – zunehmend intransparent und gefährlich.

Dass Revolutionen mit intellektuellen Kräften allein nicht zu gewinnen sind, zeigte schon der sogenannte Arabische Frühling. Gelingt es im Iran hingegen, die Unzufriedenen aus allen gesellschaftlichen Schichten auf die Straße zu bringen, könnte das schon gewaltig am Machtapparat rütteln. Ob es das Mullah-Regime tatsächlich gefährden oder gar niederschlagen kann, ist aber fraglich.

Dazu bedürfte es auch der unmissverständlichen Solidarität (wenn nicht gar logistischen Unterstützung) aller freiheitlichen Staaten. Doch gerade Europa bleibt verhalten bis stumm. Vermutlich aus Angst, die Folgen iranischer Freiheitsbestrebungen könnten den durch den Syrien-Krieg schwelenden innergesellschaftlichen Konflikt der Mitgliedstaaten erneut anfachen. Was auch zeigt, wie entfernt man hier von der Erkenntnis ist, dass doch gerade die Untätigkeit der internationalen Gemeinschaft jenes fatale Vakuum in Syrien gefördert hat, in das schließlich islamistische Kräfte ihren apokalyptischen Sprengstoff legten.

Nun müssen die Europäer ja keineswegs den teils obskuren politischen Visionen des US-Präsidenten Donald Trump folgen. Überdenken müssen sie ihre Iran-Strategie aber allemal. Denn die Proteste zeigen, dass die Lockerung der Wirtschaftssanktionen im Zuge des Atomabkommens – anders als erhofft – die Bevölkerung mittelfristig weder aus Armut noch aus totalitärer Knebelung führt. Vielmehr hat sich erwiesen, dass sie das rigide Machtsystem der Mullahs und ihrer paramilitärischen Todesschwadronen stärkt, die in Syrien, Jemen und im Libanon blutige Erfolge feiern. Und das ist zutiefst erschütternd.

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