Leitartikel Franziskus, das Vaterunser und das entzauberte Papsttum

In einer Welt, in der fast alles möglich scheint, hatten Katholiken eine Gewissheit, auf die Gläubige anderer Religionen verzichten mussten. Der Papst gab den Kurs vor, auch wenn das manchmal unangenehme Folgen hatte. Man konnte diesem Autoritarismus Folge leisten, sich an ihm reiben oder ihn ignorieren. Das Papsttum blieb trotz aller Orkanböen der Moderne ein polarisierender Anker im Ozean der Beliebigkeiten. Jetzt ist es plötzlich andersherum: Der Papst selbst bringt alte Gewissheiten in Bewegung. Für die katholische Kirche ist das ein entscheidender Paradigmenwechsel. Papst Franziskus ist in seinem fünften Amtsjahr und rüttelt unverzagt an den Dogmen des Katholizismus. In der bislang hermetischen Ehe- und Sexualmoral der Kirche lässt er Ausnahmen zu, die für Kritiker dem Anfang vom Ende gleichkommen. Der Papst versucht, den lokalen Kirchen mehr Autorität zu verleihen, etwa in Fragen der Liturgie oder der Gerichtsbarkeit. Das entspricht seiner Idealvorstellung einer Kirche, die sich gemeinsam fortbewegt. Viele Katholiken sind verstört. Priester, Theologen und Laien bezichtigen ihr Oberhaupt unverhohlen der Verbreitung von Irrlehren.

 JULIUS   MÜLLER- MEININGEN

JULIUS MÜLLER- MEININGEN

Foto: Müller-Meiningen

Seit vergangener Woche steht sogar das Vaterunser im Fokus. Man sollte meinen, das Gebet sei ein festgezurrter Anker im Sammelsurium des Glaubens. Franziskus aber hat Zweifel an der Übersetzung des christlichen Hauptgebets geäußert und damit eine Debatte befeuert, die an die Grundsätze des katholischen Gottesbildes  geht. Franziskus bezeichnete die Passage „und führe uns nicht in Versuchung“ als  „keine gute Übersetzung“. Gott könne gar nicht in Versuchung führen. „Derjenige, der uns in Versuchung führt, ist Satan“, sagte der Papst und wies auf einen Beschluss der französischen Bischofskonferenz hin, die  die Passage neu fassen ließ, in: „Lass uns nicht in Versuchung geraten.“

In Deutschland hatten einige Theologen eine Anpassung an diese Version gefordert. Der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer hingegen kritisierte, sie verfälsche die biblisch überlieferten  Worte Jesu. Und in der Bibel gibt es tatsächlich viele Beispiele, in denen Gott den Menschen harten Prüfungen, also auch Versuchungen unterzieht, etwa im Buch Hiob. Die Kritiker von Franziskus haben also ein Argument mehr, wenn sie die Übereinstimmung zwischen Papst und traditioneller Lehre als ramponiert betrachten.

Kein Zweifel: Die katholische Kirche durchlebt eine Identitätskrise, in der die grundverschiedenen Überzeugungen über das an die Oberfläche gelangen, was Katholischsein im 21. Jahrhundert bedeuten soll. Dabei könnte ein Nachfolger des 81-jährigen Papstes die dogmatischen Öffnungen und die Reform der Kurie, die er angestoßen hat, gewiss wieder rückgängig machen. Franziskus aber hat vor allem das Papsttum endgültig entzaubert. Bergoglio gibt sich als Pontifex zum Anfassen, als  primus inter pares, kein Alleinherrscher. Das Zeitalter der Päpste, die sich auf die Anerkennung ihrer Autorität und Verbindlichkeit ihrer Entscheidungen verlassen konnten, ist endgültig vorbei.

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