Gastbeitrag von Tony Blair Warum eine zweite Brexit-Abstimmung nötig ist

LONDON 2018 wird das Jahr sein, in dem sich das Schicksal des Brexit und damit Großbritanniens Schicksal entscheidet. 2017 waren die Verhandlungen noch nicht weit genug. Und 2019 wird es zu spät sein.

Realistisch gesehen bietet uns 2018 die letzte Möglichkeit darauf einzuwirken, dass unsere neue Beziehung zu Europa besser wird als die derzeitige. Und um darauf zu bestehen, dass der „Deal“ mit der EU die notwendigen Details enthält, um dies auch sicherzustellen. Es ist kein Geheimnis, dass ich mir den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union wünsche. Es geht hier um die wichtigste Entscheidung, die wir seit dem Zweiten Weltkrieg als Nation getroffen haben. (...) Ich glaube leidenschaftlich daran, dass wir einen unverständlichen Fehler machen, den künftige Generationen uns nicht verzeihen werden, wenn wir aus dem mächtigen Staatenbund vor unserer Haustür ausscheiden. (...)

Niemand stellt das Votum für den EU-Austritt von 2016 in Frage. Und niemand bestreitet, dass wir die EU tatsächlich verlassen werden, wenn dies tatsächlich der Wunsch der Briten ist. Die Frage ist, ob wir nicht das Recht haben, unsere Meinung zu ändern, wenn im Verlauf der Brexit-Verhandlungen neue Fakten bekanntwerden und wir mehr und mehr Klarheit über die Alternative zur gegenwärtigen Mitgliedschaft in der EU bekommen. Ob der „Wille des Volkes“ – ein häufig missbrauchter Begriff – als unveränderlich angesehen wird oder ob er sich verändern darf, wenn unsere Wahrnehmung der Realität sich verändert.

Als wir 2016 abgestimmt haben, wussten wir, dass wir gegen unsere derzeitige Mitgliedschaft in der Europäischen Union stimmen würden, aber nicht, wie die künftigen Beziehungen zu Europa aussehen würden. Sobald alle Informationen über unsere künftigen Beziehungen zur EU auf dem Tisch liegen, sollten wir erneut entscheiden dürfen, entweder durch das Parlament oder durch eine Wahl oder durch ein neues Referendum – das freilich kein Remake der ersten Volksabstimmung sein wird, weil wir diesmal in Kenntnis der Alternativen zur bestehenden EU-Mitgliedschaft abstimmen können.

Wir haben jetzt die Prognose, dass das Wirtschaftswachstum aufgrund des Brexit nicht nur in diesem Jahr hinter den Erwartungen zurückbleibt, sondern auch in den kommenden fünf Jahren durchschnittlich nur 1,5 Prozent betragen wird. (...) Dazu kommt der Absturz des Pfunds, ein sinkender Lebensstandard und nun erstmals auch ein Rückgang bei den Beschäftigungszahlen. (...) Dann gab es da noch die Nordirland-Verhandlungen. Die Behauptung, das Problem sei jetzt „gelöst“, ist lächerlich. Es wird nur vertagt. (...) Angesichts der vielen unterschiedlichen Versionen eines Brexits und seiner möglichen Folgen ist es absurd zu behaupten, es sei undemokratisch, die Bürger darüber entscheiden zu lassen, wie das endgültige Abkommen aussehen soll. Wie können wir den wahren „Willen des Volkes“ einschätzen, bevor wir wissen, wie die Alternative zur gegenwärtigen EU-Mitgliedschaft aussieht (...)? Es ist schlicht unmöglich, sich nicht an die Regeln halten zu wollen, zugleich aber von den Vorteilen zu profitieren. Der Binnenmarkt ist eine Sache; ein Freihandelsabkommen eine andere. Genau dies scheint jedoch die Verhandlungsposition der britischen Regierung zu sein. (...)

Ich wünsche mir, dass Labour sich zu einer progressiven Politik bekennt und erklärt, warum unsere Mitgliedschaft in der Europäischen Union grundsätzlich richtig ist, aus elementaren politischen, wirtschaftlichen Gründen. Ich halte unsere derzeitige Position strategisch wie taktisch für falsch. Statt eine schwammige Haltung zum Brexit einzunehmen, sollte Labour für das Recht der Briten eintreten, ihre Austrittsentscheidung noch einmal überdenken zu können (...). Und man muss den Menschen erklären, warum der Brexit nicht die richtige Antwort ist und auch nie war. (...)

Deutsche Fassung: Matthias Beermann

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