Analyse Seit 1. Januar 1993 ist die Tschechoslowakei Geschichte. Die Teilung verlief erstaunlich friedlich. Lassen sich daraus Lehren für den Brexit ziehen? Tschechen und Slowaken bleiben unzertrennlich

PRAG/BRATISLAVA (dpa) Als vor 25 Jahren die Tschechoslowakei zerfiel, stellten sich ähnliche Fragen wie heute beim Brexit: Was wird aus der Zollunion? Wer übernimmt Pensionszahlungen für Beamten? Dürfen slowakische Studenten in Tschechien weiter kostenlos studieren? Soll es Grenzkontrollen geben?

Die treibenden Kräfte der Teilung waren Vaclav Klaus von den tschechischen Bürgerdemokraten (ODS) und Vladimir Meciar mit seiner Bewegung für eine Demokratische Slowakei (HZDS). Bei einem Wiedersehen in Prag Mitte Dezember rechtfertigten sie die Trennung als „unausweichlich“. Nicht nur im Vergleich zum blutigen Zerfall Jugoslawiens, sondern auch zu den heutigen Streitigkeiten um den Brexit oder Katalonien sei die Scheidung „vorbildhaft“ und „sanft“ verlaufen, betonte Klaus. Meciar fügte hinzu: „Es gibt heute in Europa keine anderen Staaten, die sich so nahestehen wie Tschechien und die Slowakei.“

Ob damals auch die Bevölkerung die Teilung wollte, wird bis heute diskutiert. Anders als in Großbritannien gab es nie ein Referendum. In Umfragen habe sich zwar immer eine Mehrheit für die Beibehaltung des gemeinsamen Staats ausgesprochen, sagt der Historiker Jan Rychlik von der Karls-Universität in Prag. Er schränkt aber ein: „Das hat keinerlei Aussagekraft, denn Tschechen und Slowaken haben unter dem Begriff ‚gemeinsamer Staat’ jeweils etwas anderes verstanden.“ Während die Tschechen für einen Bundesstaat gewesen seien, hätten die Slowaken sich einen lockeren Staatenbund gewünscht, eine Art Europäische Gemeinschaft für zwei Staaten. Beides ging nicht zusammen. Zum 1. Januar 1993 entstanden die beiden unabhängigen Staaten Tschechien und die Slowakei. Auf den Straßen der neuen slowakischen Hauptstadt Bratislava wurde gefeiert.

Rychlik ist Autor eines Standardwerks über das Zusammenleben von Tschechen und Slowaken und in den Medien als Experte gefragt. Lassen sich seiner Einschätzung nach aus den Erfahrungen vor 25 Jahren Lehren für den Brexit ziehen? Voraussetzung für die friedliche Teilung der Tschechoslowakei sei der Wille zu einer guten Zusammenarbeit nach der Teilung gewesen, sagt Rychlik. „Das fehlt meiner Ansicht nach vor allem auf britischer Seite.“

Im Fall der Tschechoslowakei entschieden sich beide Teilrepubliken für die Beibehaltung der Zollunion und des freien Verkehrs von Waren, Personen und Dienstleistungen. Die Bürger hatten – lange vor dem EU-Beitritt im Jahr 2004 – uneingeschränkt das Recht, weiter im jeweils anderen Staat zu arbeiten. Die gemeinsame Handelspolitik gegenüber dritten Staaten wurde beibehalten. Die Grenze konnte jederzeit und überall mit dem Personalausweis überschritten werden. Und in der Slowakei darf die tschechische Sprache auf Ämtern wie die slowakische verwendet werden.

Bis heute können slowakische Studenten kostenlos die tschechischen Hochschulen besuchen. Das besondere Verhältnis zwischen Tschechen und Slowaken spiegelt sich auch in Meinungsumfragen, in denen beide Seiten die jeweils andere Nation als die sympathischste bezeichnen. Bürgervereinigungen und Internet-Initiativen für eine Wiedervereinigung bleiben trotzdem ein Minderheitsprogramm. Vor allem in der Slowakei dominiert die Aussage: „Ich war anfangs gegen die Trennung, aber inzwischen bewerte ich sie positiv.“

Wer hat wirtschaftlich am stärksten von der Teilung profitiert? Die Slowakei, sagt der Tscheche Vaclav Klaus. Und Ökonomen geben ihm Recht. Die Slowakei habe nicht nur gegenüber den alten EU-Ländern, sondern auch gegenüber Tschechien wirtschaftlich aufgeholt, sagt Sberbank-Analyst Vladimir Vano.

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