London Der nächste Neue im britischen Krisen-Kabinett

LONDON Eigentlich sollte es diese Woche im politischen London um den Brexit und den in Westminster eskalierenden Streit über eine Zoll­union mit der EU gehen. Am Ende drehte sich jedoch alles um den, wie Medien es nannten, „dramatischen Rücktritt“ der nun ehemaligen Innenministerin Amber Rudd. Sie gab am Sonntagabend im Zuge des Skandals um den Umgang mit karibischen Immigranten ihr Amt auf. Sie habe den Parlamentsausschuss „versehentlich getäuscht“, schrieb sie in ihrem Brief an Premierministerin Theresa May. Die beförderte den bislang für die Kommunen zuständigen Minister Sajid Javid zum Innenminister – ein Posten, der als Schleudersitz gilt, wie Rudd leidvoll erfahren musste.

 Sajid Javid, Sohn pakistanischer Einwanderer.

Sajid Javid, Sohn pakistanischer Einwanderer.

Foto: dpa/Matt Dunham

Ihr Nachfolger, ein ehemaliger Investmentbanker, ist selbst Einwanderer der zweiten Generation und äußerte sich am Wochenende wie als Bewerbung auf das Amt zum so genannten Windrush-Skandal. Dieser dominiert seit zwei Wochen die öffentliche Diskussion in Großbritannien. „Das hätte ich sein können, meine Mutter oder mein Vater“, sagte der 48-jährige Javid, der es wie Londons Bürgermeister Sadiq Khan als Sohn eines Busfahrers an die Spitze der britischen Politik geschafft hat.

Seine muslimischen Eltern, geboren in Indien, flohen bereits als Kinder nach Pakistan. In den 60er Jahren kam der Vater dann nach Großbritannien. Die Geschichte ähnelt jener der Windrush-Generation. Es handelt sich um Einwanderer aus früheren Kolonien in der Karibik, die zwischen 1948 und 1971 auf Einladung der Regierung als Arbeitskräfte ins Königreich zogen und beim Wiederaufbau halfen. Nach Gesetzesverschärfungen gegen illegale Immigranten erhielten plötzlich Dutzende Menschen und ihre Nachfahren, die seit Jahrzehnten auf der Insel leben, trotz ihres legalen Aufenthaltsstatus eine Ausreiseaufforderung, weil Belege fehlten. Erst sprach das Innenministerium von einem Fehler. Dann stritt Javids Vorgängerin Rudd ab, von Abschiebequoten gewusst zu haben, hatte sie aber doch. Dann nahm sie ihren Hut. Kritiker bemängeln jedoch, dass Rudd lediglich als Bauernopfer für Theresa May herhalten muss. Die habe in ihrer Zeit als Innenministerin bis 2016 mir ihrer Einwanderungspolitik das „feindliche Klima“ geschaffen.

Mit dem Abgang von Rudd verliere May „ihr menschliches Schutzschild“ und müsse nun selbst zurücktreten, forderten am Montag einige Abgeordnete der Opposition. Medien betonten derweil, die Pro-Europäerin und May-Vertraute Rudd sei „die Stimme der liberalen Konservativen“ im sogenannten „Brexit-Kriegskabinett“ gewesen – jener Minister, deren Ressorts sich mit dem Ausstieg aus der EU befassen. Die Regierungschefin dürfte deshalb bei der Neubesetzung des Amts das politische Gleichgewicht zwischen Brexit-Hardlinern und EU-Freunden im Hinterkopf gehabt haben.

Sajid Javid stand vor der Brexit-Abstimmung ebenfalls auf der pro-europäischen Seite, auch wenn er sich zurückhaltender als andere präsentierte und nach dem Volksentscheid befand, dass das Votum respektiert werden müsse. Mittlerweile zeigt er sich eher skeptisch gegenüber weicheren Brexit-Optionen, ganz wie die Hardliner. Zunächst gilt es für ihn indes, so schnell wie möglich die Windrush-Krise zu lösen.

Das Stühlerücken kommt für die ohnehin geschwächte Theresa May zur Unzeit. Nicht nur, dass sie das vierte Kabinettsmitglied in sechs Monaten verliert. Am Donnerstag stehen auch Kommunalwahlen an, die als erster Stimmungstest seit der für die Premierministerin desaströs gelaufenen Neuwahl im Juni vergangenen Jahres gelten, bei der die Konservativen die absolute Mehrheit verloren hatten. Umfragen zufolge droht den Konservativen eine herbe Schlappe – es wäre vor allem eine für Theresa May.

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