Tunesien geht uns an

Meinung · Wieder einmal zeigt die EU, die von außenpolitischer Stärke träumt, wie schwach sie auf der Brust ist: Vor der südlichen Haustür Europas, im Urlaubsparadies Tunesien, schießen Polizisten auf friedliche Demonstranten. Auf junge Menschen, die nach Demokratie und Freiheit rufen, nach Arbeit und Auskommen in einem Staat, der seit mehr als zwei Jahrzehnten vom korrupten Regime Ben Alis beherrscht wird

Wieder einmal zeigt die EU, die von außenpolitischer Stärke träumt, wie schwach sie auf der Brust ist: Vor der südlichen Haustür Europas, im Urlaubsparadies Tunesien, schießen Polizisten auf friedliche Demonstranten. Auf junge Menschen, die nach Demokratie und Freiheit rufen, nach Arbeit und Auskommen in einem Staat, der seit mehr als zwei Jahrzehnten vom korrupten Regime Ben Alis beherrscht wird. Und die Europäer schweigen.Die wenigen Reaktionen auf das Bürger- und Menschenrechtsdrama auf der anderen Seite des Mittelmeeres beschränken sich auf leere diplomatische Floskeln: Man sei besorgt, hört man kleinlaut aus Brüssel. Auch von den beiden wichtigen tunesischen Wirtschaftsverbündeten Frankreich und Deutschland kommt kein nennenswerter Aufschrei.

Stattdessen stilles Beten und Hoffen, dass möglichst bald wieder Ruhe in Tunesien einkehre. Warum eigentlich stellt sich Europa blind und taub? Weil die Angst groß ist, dass die Lage und das, was man bisher gerne "Stabilität" nannte, außer Kontrolle gerät. Wenn General Ben Ali vom Volk verjagt wird, steht das islamische Land tatsächlich vor einem Machtvakuum. Da der Diktator die politische Opposition systematisch ausgeschaltet hat, gibt es keine anderen politischen Führungsfiguren. Ungewiss ist auch, welche Rolle die bisher verbotenen Islamistenparteien bei freien Wahlen spielen würden. Doch diese Sorge rechtfertigt nicht, weiterhin den heimlichen Verbündeter eines Regimes zu spielen, das sich seit 23 Jahren mit Unterdrückung der Grundrechte aufrecht hält. Das den Staat, der vom Tourismus und Textilexport lebt, als Selbstbedienungsladen ansieht.

Tunesien geht uns alle an. Viele junge Bürger des Landes, ohne Perspektiven, versuchen ihrer aussichtslosen Lage durch die waghalsige Flucht zu entkommen - und landen, wenn sie diese überleben, als Illegale in Europas Metropolen.

Schon deshalb muss Europa ein modernes Tunesien mitgestalten, die demokratische Oppositions- und Reformbewegung stützen und darf Ben Ali nicht länger mit Samthandschuhen anfassen. Die Toleranz gegenüber dessen Polizeistaat wird von Diplomaten gerne damit gerechtfertigt, dass man so die islamistischen Fundamentalisten im Zaum halte und Terrorgefahren ersticke. Mit solchen übertriebenen Terrorängsten spielen übrigens alle nordafrikanischen Machthaber, von Ägypten bis Marokko, um Freiheiten zu bescheiden und sich Europas Stillhalten zu sichern. Dabei lehrt die Erfahrung, dass Unterdrückung Terror nährt und dieser in einem Rechtsstaat nicht weniger effektiv bekämpft werden kann.

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