Streiten statt kuscheln

Stell dir vor, Europa wählt und niemand geht hin. Es war diese alte Sorge der europäischen Parteienfamilien, die sie zu einer neuen Idee greifen ließen: Spitzenkandidaten.

Endlich Köpfe auf den Wahlplakaten, öffentliches Ringen um die besten Konzepte für diese Union. Doch zwei Wochen vor dem Urnengang ist davon wenig zu spüren. Die Front-Männer der beiden großen politischen Blöcke Sozialdemokraten und Konservative sind nicht nur privat eng befreundet. "Es gibt wenig Unterschied", räumte SPD-Mann Martin Schulz am Donnerstag beim "TV-Duell" im ZDF ein. Christdemokrat Jean-Claude Juncker ergänzte: "Ich verstehe Wahlkampf nicht als Massenschlägerei ohne Grund." Auch in politischen Sachfragen muss man nach dem suchen, was die beiden Bewerber um Wahlsieg und Kommissionspräsidentschaft trennen könnte. Zwar tritt Schulz häufig wuchtiger, pointierter, wortgewaltiger auf. Dafür amüsiert Juncker mit hintersinnigem Humor. Beim Ringen um Wählerstimmen bringt das nicht wirklich viel.

Dabei hat die EU eigentlich genug Herausforderungen, bei denen die Wähler längst mitreden wollen: von der Finanzkrise über das europäisch-amerikanische Freihandelsabkommen bis hin zur Gentechnik und der künftigen Ausgestaltung der europäischen Institutionen.

Weniger Bürokratie, mehr Transparenz, Kampf dem Schuldenmachen - die Versprechen gleichen sich. Kuschelkurs statt Auseinandersetzung. Ob man so die in vielen Mitgliedsstaaten erstarkten rechten und EU-kritischen Parteien und Organisationen mit ihrem Stammtisch-Parolen in die Schranken weisen kann, wird von vielen inzwischen bezweifelt. "Es fehlt alles, was Wähler interessieren könnte", sagt Parteienforscher Jürgen Falter. Dabei gibt es diese Themen. Umfragen belegen, dass der Konflikt der EU mit Russland in der Ukraine-Krise eine tiefe Angst hervorgerufen hat. Plötzlich ist sie wieder da, die Ahnung, dass Europa als Friedensprojekt eben noch nicht ausgedient hat.

Die Entscheidung am 25. Mai lässt sich zwar nicht auf die Faustformel "Krieg oder Frieden?" zuspitzen. Aber es wird sehr wohl um die Frage gehen, wie diese Union mit einem Nachbarn umgeht, der an die Stelle eines starken Rechts das Recht des Stärkeren setzt. Europa könnte für seine Ukraine-Politik einen hohen Preis bezahlen müssen - in Form von höheren Energiepreisen und Verlust von Jobs, wenn die Spirale aus Wirtschaftssanktionen in Gang gesetzt wird. Diese Wahl wäre eine Chance gewesen, sich dafür demokratische Rückendeckung zu holen. Aber man stellt den Wählern nicht einmal diese Frage, sondern tritt institutionelle Reibereien breit. Europa präsentiert sich nicht mitreißend, obwohl genau das jetzt nötig wäre.

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