Soll die Welt beim Atom am deutschen Wesen genesen?

Saarbrücken. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die Bundeskanzlerin und ihr Vizekanzler hatten angesichts der Erdbeben- und Tsunami-bedingten Havarie des KKW Fukushima große Angst. Nicht vor den Atomkraftwerken. Aber vor den Wählern. So vollzogen sie eine radikale Kehrtwende in der Energiepolitik. Die Wahlergebnisse zeigen: Politisch hat es ihnen nicht geholfen

Saarbrücken. Angst ist ein schlechter Ratgeber. Die Bundeskanzlerin und ihr Vizekanzler hatten angesichts der Erdbeben- und Tsunami-bedingten Havarie des KKW Fukushima große Angst. Nicht vor den Atomkraftwerken. Aber vor den Wählern. So vollzogen sie eine radikale Kehrtwende in der Energiepolitik. Die Wahlergebnisse zeigen: Politisch hat es ihnen nicht geholfen. Aber ihre Glaubwürdigkeit ist schwer angeschlagen.Die Bilder aus dem Katastrophengebiet waren apokalyptisch. Da hat Angela Merkel Recht. Rund 28 000 Tote! Auch wenn die Berichterstattung der Medien anderes vermuten lässt: Das KKW Fukushima hat zu dieser Schreckensbilanz - objektiv betrachtet - kaum beigetragen. Durch die Atomkraft starb kein einziger Mensch. Die Zahl der durch Strahlenbelastung gesundheitlich Geschädigten ist - gemessen an der Zahl der durch Erdbeben und Tsunami Getöteten und Verletzten - klein. Gravierend ist fraglos, dass das engere Umfeld des KKW auf Dauer unbewohnbar sein könnte. Ist damit ein negatives Votum der Ethikkommission zur Atomkraft vorprogrammiert? Ein Ja wäre voreilig. Wichtige Fragen sind vorab zu klären:

Frage Nr. 1: Ist die Nutzung der Atomkraft für die eine Nation ethisch vertretbar, für die andere aber nicht? Nein! Unter ethischen Aspekten kann es nur eine Antwort geben. Dann bräuchten wir aber eine internationale Ethikkommission. Mit Vertretern auch aus den vielen Ländern, die - wie Japan - an der Atomkraft festhalten. Aus plausiblen Gründen.

Frage Nr. 2: Sind die Alternativen nicht mit den gleichen Maßstäben zu messen wie die Atomkraft? Zur Atomkraft gibt es trotz erfreulicher Fortschritte bei den regenerativen Energien nur eine realistische Alternative im Bereich der Grundlast: Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen (Kohle, Mineralöl, Gas). Der CO2-Ausstoß dieser Kraftwerke trägt aber erheblich zur Klimaerwärmung bei. Und diese eröffnet apokalyptische Perspektiven: Eine starke Ausdehnung der Meere und Wüsten auf von Menschen bewohnte Gebiete. Wäre dies ethisch vertretbar?

Frage Nr. 3: Sind ganz unterschiedliche Maßstäbe bei der Beurteilung von Technologien ethisch vertretbar? Unsere Transporttechnologien etwa, also Kraftfahrzeug, Eisenbahn, Schiff und Flugzeug, tragen erheblich zu der drohenden weltweiten Klimakatastrophe bei (CO2). Hinzu kommen zahlreiche Tote und Verletzte. 2010 starben allein auf deutschen Straßen 3657, weltweit über 100 000 Menschen! Legte man hier die Maßstäbe an wie jetzt bei der Atomkraft, müssten wir sofort aus all diesen Technologien "aussteigen".

Hauptursache des steigenden Energiebedarfs ist das Wachstum der Menschheit. Um 1800 gab es eine Milliarde Menschen, heute sind es sieben, 2050 werden es 9,5 Milliarden sein. Für Kommissionsmitglied Kardinal Marx stellt sich damit eine zusätzliche Frage: Hätten die Katholiken oder gar alle Menschen in den letzten 50 Jahren ihr generatives Verhalten an den ethischen Normen der Katholischen Kirche (Striktes Verbot von Pille, Kondom usw.) orientiert, wäre das Wachstum noch rasanter. Was wird der Kardinal dazu wohl sagen?

Die ökonomischen und sozialen Folgen des Atomausstiegs sind für viele seiner Befürworter belanglos. Aber sie sind gravierend. Deutschland wirft - volkswirtschaftlich gesehen - einen hohen Milliardenbetrag aus dem Fenster. Und bezahlt dies auch noch mit dem Verlust industrieller Arbeitsplätze. Weil wir in unserer Angst vor der Atomkraft eines übersehen: Angst ist ein schlechter Ratgeber!

Horst Rehberger (72, FDP) war Wirtschaftsminister im Saarland und in Sachsen-Anhalt.

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