Seitenweise Rügen im Zwischenzeugnis für Ankara

Brüssel. Der Jubel über die europäische Perspektive ist längst verklungen. "Keiner mag uns, uns ist das egal", titelte gestern eine große türkische Zeitung. Da ahnte man am Bosporus schon, was in der Bilanz der EU-Kommission über den Stand der Beitrittsverhandlungen stehen würde: seitenweise Kritik, Rügen und nur wenige Fortschritte

Brüssel. Der Jubel über die europäische Perspektive ist längst verklungen. "Keiner mag uns, uns ist das egal", titelte gestern eine große türkische Zeitung. Da ahnte man am Bosporus schon, was in der Bilanz der EU-Kommission über den Stand der Beitrittsverhandlungen stehen würde: seitenweise Kritik, Rügen und nur wenige Fortschritte. "Die Türkei wird nicht beitrittsreif", erklärte denn auch Markus Ferber, Chef der CSU-Abgeordneten im Europa-Parlament.Tatsächlich reiht Brüssel Defizite und unerfüllte Zusagen in einer endlos wirkenden Liste aneinander. Vor allem die Einschränkungen der Pressefreiheit hätten zugenommen. Selbst Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan habe einen Karikaturisten verklagt, weil ihm nicht gefiel, wie dieser ihn dargestellt hatte. Bei den Frauenrechten kommt das Land ebenso wenig voran wie bei der Sicherstellung von Religionsfreiheit und Menschenrechten. "Ehrenmorde, Zwangsheiraten und häusliche Gewalt bleiben ernsthafte Problem", heißt es im Zwischenzeugnis aus Brüssel. Mehreren hunderttausend Kindern in abgelegenen Landesteilen werde weiter jede Schulbildung vorenthalten. Im Justizbereich fehlen über 3000 Richter und Staatsanwälte. Zwar bemühe sich die Regierung, Folter-Vorwürfen nachzugehen. Dennoch würden Verfahren gegen beschuldigte Polizisten häufig nicht begonnen oder mit obskuren Begründungen niedergeschlagen. Dagegen hebt Brüssel die vor zwei Monaten verabschiedete neue Verfassung als "Schritt in die richtige Richtung" hervor. Darin wird die Macht des Militärs massiv beschnitten und die Armee einer zivilen Kontrolle unterstellt. Bei den Bürgerrechten gebe es ebenfalls positive Ansätze, meint die Kommission. Dies alles müsse nun aber auch "unwiderruflich" umgesetzt werden. Der schwerste Vorwurf allerdings bleibt: Ankara tut noch immer nichts, um das EU-Mitglied Zypern anzuerkennen, und hält seine Blockade für Flugzeuge und Schiffe von der geteilten Insel aufrecht. Das Thema ist brisant, könnte es doch die bis 2014 befristeten Beitrittsgespräche endgültig zum Erliegen bringen. Die kommen schon jetzt nicht vom Fleck. Acht der 35 Verhandlungskapitel, die Ankara umsetzen muss, stoppte Brüssel wegen des Zypern-Konflikts. Weitere Themen blockiert Frankreichs Präsident Nicolas Sarkozy, darunter den so wichtigen Bereich Wirtschaft und Finanzen. Insgesamt sind nur noch drei Themengebiete offen für die Verhandlungen.Die Erweiterung der Union bis an den Bosporus liegt weit hinter dem Fahrplan zurück. Das Bedauern darüber hält sich allerdings in Grenzen. Die Mehrheit in Deutschland, Frankreich und Österreich vertritt ohnehin die Meinung, dass die EU von der Türkei die Finger lassen sollte. Umgekehrt wird der Beitritt auch für die Türken zum "roten Tuch". Nur noch 40 Prozent befürworten die Mitgliedschaft bei einer Umfrage vor wenigen Wochen.Hinzu kommt die wachsende Verärgerung über die unterschiedlichen Maßstäbe, mit denen Brüssel die Kandidaten behandelt. Erst am Montag erhielten Bosnier und Albaner die Zusage, künftig ohne Visum in die EU einreisen zu dürfen, während Türken sich noch immer einem langen Verfahren bei den Botschaften stellen müssen. Dass Griechenland trotz all seiner Schummeleien mit Etatzahlen stabilisiert wird, während man Ankara - mit einem soliden Haushalt und einem Wirtschaftswachstum von fünf Prozent - eher ablehnt als willkommen heißt, ist am Bosporus ebenfalls schwer zu vermitteln. Die Kommission gibt sich dennoch unbeirrt. Erst gestern betonte sie noch einmal: "Wir haben ein Verhandlungsmandat, und wir werden es nutzen."

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