Schottland gewinnt – dank seiner Verlierer

London · Es ist erst gut zwei Monate her, dass zahlreiche freiheitsliebende Schotten ihre blauweißen Sticker und Fahnen einpackten und unter dem Bett verschwinden ließen. Ernüchterung war nach dem Unabhängigkeits-Referendum, bei dem sich die Mehrheit für einen Verbleib im Vereinigten Königreich ausgesprochen hat, jedoch nur kurzzeitig zu spüren.

Sie mögen formell verloren haben, trotzdem galten die Autonomiebefürworter für die Beobachter als Gewinner. Politiker aus dem Süden, die kurz vor dem Votum in Scharen im nördlichen Landesteil einfielen, um die Spaltung zu verhindern, versprachen tief greifende Reformen und mehr Autonomie.

Seit gestern sind die Schotten dem Ziel der Selbstverwaltung tatsächlich ein Stück nähergekommen. Eine Kommission, die von der Regierung in Westminster mit der Ausarbeitung eines Kompromisses beauftragt wurde, hat ihren Bericht vorgelegt. Der entwirft in groben Zügen das künftige Bild der Beziehungen zwischen Edinburgh und London . Ein entsprechendes Gesetz, das nächstes Jahr verabschiedet werden soll, wäre ein historischer Einschnitt und würde den größten Machttransfer an das schottische Regionalparlament seit dessen Einrichtung im Jahr 1998 darstellen.

So empfiehlt die Kommission unter dem Vorsitz des schottischen Politikers und ehemaligen Investmentbankers Lord Robert Smith etwa, dass Schottland künftig seine Einkommenssteuer weitgehend selbst einzieht. Bislang wird sie zentral in London erhoben und verteilt. Der Regierung in Edinburgh würde künftig auch die direkte Kontrolle über Sozialhilfeleistungen zugestanden, zudem sollten die Schotten über die Verwendung eines Teils der Mehrwertsteuer bestimmen dürfen. Das Gesamtpaket der vorgeschlagenen Zugeständnisse würde sich nach Schätzungen auf etwa 14 Milliarden Pfund, umgerechnet rund 17,6 Milliarden Euro, belaufen. Damit hätten sich jene Kräfte, die seit Jahrzehnten mehr Autonomie fordern, in vielerlei Hinsicht durchgesetzt.

Doch schon bahnen sich Proteste an. Der neuen Regierungschefin in Edinburgh , Nicola Sturgeon von der Scottish National Party, geht der Machttransfer noch nicht weit genug. "So wird die Westminster-Herrschaft fortgesetzt", schimpft sie. Die Bewegung für eine völlige Unabhängigkeit Schottlands hat ihr eigentliches Ziel noch immer im Blick. Es sei ein "guter Tag für das Vereinigte Königreich", begrüßte dagegen Premierminister David Cameron gestern die Pläne. "Die Versprechen an das schottische Volk werden gehalten."

Die Debatte wird damit jedoch keineswegs beendet, Erwartungen in anderen Gebieten Großbritanniens wurden mit Camerons panikartigen Zugeständnissen an Schottland erst geweckt. Es zeichnet sich seit längerem ab, dass neben Wales und Nordirland vor allem englische Provinzen ähnliche Rechte verlangen. Auch sie fühlen sich von der zentralistischen Verwaltung in London dominiert. Es ist ein Streit darüber entfacht, warum die Abgeordneten aus den drei Landesteilen Schottland , Wales und Nordirland in ihren Regionalparlamenten über sie betreffende Fragen wie Bildung und Gesundheit bestimmen können, zugleich aber im Londoner Parlament über die britische Gesamtpolitik, also auch über englische Belange, mitentscheiden dürfen. In England gibt es keine vergleichbaren Vertretungen - bislang.

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