Schöne alte Märchenwelt

Die Queen kommt - und das halbe Land spielt verrückt. Aufregung und Euphorie ob der Monarchin platzen vor Superlativen und regen zum Staunen an. Woher kommt diese Faszination an den Royals und damit einem hierzulande längst überwundenen System?



In Deutschland wurde der Adel juristisch 1918 abgeschafft. In Großbritannien durchläuft die Monarchie dagegen herrliche Zeiten, die Regentin ist so beliebt wie keine andere öffentliche Person. Einige trauern noch immer dem Empire nach, der Kolonialismus mit all seinen Schattenseiten wird gerne verdrängt. Irrational blicken nicht nur viele Briten auf dieses herrschaftliche Theater voller Prunk, Pracht und Pomp. Eine perfekte Welt?

Kaum. Die Gesellschaft auf der Insel kämpft mit tiefsitzenden Klassenunterschieden, die Königsfamilie muss als Verbindungselement zwischen Oberschicht und Arbeiterklasse herhalten. Und ihre Ausstrahlung, vor allem jene der 89-jährigen Chefin der Firma Windsor, ist in der Tat wirkungsmächtig. Die Queen sitzt seit über 63 Jahren auf dem Thron und steht in den Augen ihrer Untertanen als Symbol für Pflichtbewusstsein, Hingabe und Disziplin. Sie ist das moralische Vorbild. Sie verkörpert, obwohl sich ihre Macht auf repräsentative Aufgaben beschränkt, den britischen Staatskern. Und der vermeintliche Zauber der Blaublütigen schwappt in alle Welt, die nach Bildern und Geschichten giert - als ob wir seit Jahrzehnten eine Soap-Opera in Echtzeit schauen mit allem, was dazugehört: Skandale, Reichtum und schöne Menschen, eine fast fehlerfreie Queen, dazu eine Terminologie wie im Märchen.

Die Politik erstickt derweil im grauen Alltag und leidet unter fehlenden Identifikationsfiguren und Glaubwürdigkeitsproblemen. Das Fundament Europas zeigt immer mehr Risse, viele Menschen fühlen sich ob der Komplexität der Welt und wirtschaftlicher Schwierigkeiten abgehängt und schwanken unsicher Richtung Zukunft. Den gewählten Vertretern haftet wenig Glamouröses an, schnelllebig werden Entscheidungen getroffen. Dagegen hat das zwar alltagsferne, aber unerschütterliche Königshaus Bestand. Es verheißt Kontinuität, schafft Orientierung.

Als die Queen kürzlich zur Parlamentseröffnung auf dem Thron das Programm verlas, lachten Zyniker laut auf: Auf dem Haupt der Königin funkelte die Prachtkrone, der Samtumhang mit Hermelinfutter und Goldbesatz lag ausgebreitet vor ihr. Dann verkündete sie im Namen der Regierung, dass unter anderem die Sparpolitik weitergeführt und Sozialleistungen gedeckelt würden. Verblenden die Diamanten unsere Urteilskraft? Mit Sicherheit. Aber die Faszination für die Royals passt offenbar in eine Zeit, in der das Bedürfnis, mittels Hochglanzmagazinen in die Welt der funkelnden Träumereien zu flüchten, ungestillt ist.

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