Reformation, unsere Wurzel

So stellt sich wohl niemand ein epochales Ereignis vor. Am 31. Oktober 1517 schlägt der Überlieferung nach ein gewisser Martin Luther , Theologieprofessor im kleinen Wittenberg, ein Thesenpapier an die Tür der Schlosskirche. Ein Aufruf zu einer Debatte unter Gelehrten, gespickt zwar mit Kritik an Kirchenoberen, aber im Grunde gemäß den akademischen Gepflogenheiten. Dieses Pamphlet sollte aber sehr bald zum Symbol für eine Zeitenwende werden, für die Reformation, die das mittelalterliche Europa erschütterte und verwandelte. Nicht zuletzt ist der Anschlag der 95 Thesen Luthers ein Gründungsmythos der evangelischen, speziell der lutherischen Kirchen. Dass diese Geschichte noch nachwirkt, zeigt sich allein daran, dass evangelische Christen bereits heute das Jubiläumsjahr einläuten und danach in vielen tausend Veranstaltungen auf den 500. Jahrestag des Thesenanschlags hinfeiern.

Geplant ist ein anderes Feiern als bei früheren Reformations-Großjubiläen wie etwa 1917 - ohne oberflächliches Hurra, ohne auftrumpfende Heldenverehrung, ohne böse Polemik gegen Katholiken, Juden , Franzosen. Diesmal soll es zum Glück ehrlicher, nachdenklicher, offener, vielleicht auch festlicher zugehen. Ob aber mehr daraus wird, als dass eine engagierte Minderheit von Protestanten eine historische Würdigung zelebriert? Man mache sich nichts vor, die reformatorische Kernbotschaft von der Erlösung des sündigen Menschen durch Jesus Christus allein im Glauben ist schon rein sprachlich schwer verständlich und inhaltlich fremd. Sie hat ihre Strahlkraft lange eingebüßt. Die Kirchen sind fast leer.

Und vieles ist heute so selbstverständlich in unserer Gesellschaft geworden, dass die Wurzeln in Vergessenheit geraten. So hat etwa der reformatorische Gedanke des mündigen Christen, der frei von Bevormundung durch den Klerus seinen Glauben anhand der Heiligen Schrift bildet und ihn im Angesicht Gottes selbst verantwortet, den Weg bereitet für Religionsfreiheit, Menschenwürde und Demokratie. Doch auch das Finstere unserer Geschichte hat in der Reformation Wurzeln: der Hass auf Juden und religiöser Eifer, der sich in Gewalt entlädt.

Trotz alledem kommt das Reformationsjubiläum zur rechten Zeit. Der so verunsicherten und verängstigten Gesellschaft kann solch ein Anlass gut tun, sich mit ihren Wurzeln zu befassen. Es kann sich lohnen, in Auseinandersetzung mit der vielschichtigen und widersprüchlichen Geschichte Luthers, seiner Mitstreiter und Gegner zu debattieren, was uns heute in diesem Land trennt und zusammenhält. Und gewiss lohnt es auch, sich zu fragen, wie man es denn hält mit der Religion, was das Reden von einem oder auch zu einem Gott heute bedeuten mag, gerade in einer Zeit, in der religiöser Furor die Welt erschüttert.

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