Putin zeigt Nerven - und sein wahres Gesicht

Moskau. "Wer mir die Laune für nur eine Minute verdirbt, dem verderbe ich sie für ein ganzes Leben." Dieser Satz der grausamen chinesischen Kaiserwitwe Cixi aus dem 19. Jahrhundert lässt sich gut auf das heutige Russland übertragen

Moskau. "Wer mir die Laune für nur eine Minute verdirbt, dem verderbe ich sie für ein ganzes Leben." Dieser Satz der grausamen chinesischen Kaiserwitwe Cixi aus dem 19. Jahrhundert lässt sich gut auf das heutige Russland übertragen. Alle, die dem alt-neuen Präsidenten Wladimir Putin im Vorfeld seiner Amtseinführung die Laune verdorben haben, können sich wohl darauf vorbereiten: Der mächtigste Mann im russischen Staate wird kaum etwas unversucht lassen, ihnen zuzusetzen. Er fühlt sich von all diesen "Netzhamstern" und "Affenmenschen", wie er Regierungsgegner zu nennen pflegt, grenzenlos beleidigt.Schon hat er in aller Eile ein Demonstrationsgesetz unterzeichnet, damit es bereits heute, wo wieder 50 000 Unzufriedene durch Moskauer Straßen ziehen wollen, seine Wirkung entfalten kann. Gestern nahm die Staatsmacht etwa ein Dutzend prominente Regierungsgegner ins Visier. Ermittler durchsuchten ihre Wohnungen und bestellte sie für heute zum Verhör. Damit können die Oppositionellen wohl nicht an der geplanten Demonstration teilnehmen. Die koordinierte Aktion am Morgen traf unter anderem den Anwalt und Blogger Alexej Nawalny, den Linkspolitiker Sergej Udalzow, Ilja Jaschin von der Organisation Solidarnost und die bekannte Fernsehmoderatorin Xenia Sobtschak.

Es ist ein nervöses, ja auch ein lächerliches Hantieren eines Präsidenten, der sein wahres Gesicht zeigt. Menschenrechtler sprechen bei den Hausdurchsuchungen gar von "1937", dem Jahr des Großen Terrors unter Stalin, als über 1,5 Millionen mutmaßliche Gegner des Regimes als unzuverlässig angesehene "Elemente" mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen gezerrt, später erschossen oder in den Gulag gesteckt wurden. Das klingt polemisch, doch die viel gepriesene Stabilität Putins ist längst ins Wanken geraten. Auf die innenpolitische Krise hat der Kreml aber bislang keine Antwort.

Am 12. Juni 1990 deklarierte der erste Volksdeputierten-Kongress der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik in Moskau die staatliche Souveränität Russlands. Das Land machte einen ersten Schritt in Richtung Demokratie. Seitdem feiert der Staat jedes Jahr am 12. Juni den "Tag Russlands" - und die Demokratie lässt weiter auf sich warten. Es ist ein Tag, an dem Demokratie und Menschenrechte beschworen werden. In der Realität sind das reine Lippenbekenntnisse. Jelzin, so viele Fehler er auch machte, hatte erkannt, dass man ein zerfallendes Riesenreich nicht mit Pathos, aber auch nicht mit repressivem Gebaren retten kann. Er wählte den Aufbau einer neuen Staatsform. Die heutigen Proteste zeigen ebenfalls Risse im System. Die Führung im Kreml zieht sich aber ohnmächtig zurück, so sehr sie auch die Knüppel gegen ihre Gegner einsetzt.

Zum Dialog ist Putin nicht bereit, wohl auch nicht fähig. Er schließt die Augen vor den Symptomen und will so der Krankheit des Regimes entgehen. Zurückbeordern lässt sich die Krise aber nicht, der Druck der selbstbewussten Bürger wächst. Das heutige System liegt sicher nicht so darnieder wie die Sowjetunion am Ende der 80er Jahre. Es scheint leichter, aus der Sackgasse wieder herauszufinden. Doch ein Kurswechsel ist nicht Putins Sache. Also schlägt das Regime zu, gegen all die Spielverderber, die für das Macht-wechsele-dich-Spiel neue Regeln verlangen.

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