Proteste in Russland Putins Staatsmaschine gerät ins Stottern

Moskau Der Kreml reagiert, als wäre er direkt im Machtzentrum angegriffen worden. Die Nationalgarde, die Wladimir Putin untersteht, wurde aufgeboten und ging brutal gegen die Teilnehmer einer nicht genehmigten Demonstration im Moskauer Stadtzentrum vor.

 Russlands Präsident Wladimir Putin ist nicht mehr so unumstritten wir vor Jahren.

Russlands Präsident Wladimir Putin ist nicht mehr so unumstritten wir vor Jahren.

Foto: dpa/Alexei Druzhinin

Wovor fürchtet sich der Kreml? Derzeit gehen die Leute bloß auf die Straße, um gegen den Ausschluss der Oppositionskandidaten bei den Wahlen für das Stadtparlament am 8. September zu protestieren. Es sind nur ein paar Bewerber, die sich zur Wahl stellen wollen. Zudem hat das 45-köpfige Stadtparlament keine entscheidende politische Macht. Dennoch führte diese eher unbedeutende regionale Wahl zur größten politischen Erschütterung der letzten sieben Jahre.

Die Vorkommnisse zeigen, dass das System Putin nicht mehr störungsfrei funktioniert. Dem Präsidenten entgleitet die Kontrolle über dieses autoritäre System. 2000 trat er an, um eine funktionsfähige, weisungsgebundene und wirksame „Vertikale der Macht“ einzuführen. Durch sein Auftreten erweckt er zwar den Eindruck, er kontrolliere alles. Tatsächlich verfolgen auf den tieferen Ebenen der Vertikale Gouverneure, Minister und Beamte oft eigennützige Interessen. Putin greift nur ein, wenn dieses Umfeld seine Kreise stört. Die Sorgen und Ängste der Bevölkerung interessieren kaum.

Seit Jahrzehnten galt: Die Regierung sorgt für einen geringen Standard finanzieller und sozialer Sicherheit, kann dafür aber im Gegenzug erwarten, dass Bürger auf Mitspracherechte verzichten. Noch stellen die Bürger dieses Modell nicht infrage. Doch wie lange noch? Seit sechs Jahren sinken die Reallöhne, und Besserung ist nicht in Sicht. Die Abhängigkeit der heimischen Wirtschaft vom Rohstoffsektor stieg unter Putins Führung noch weiter an. Um sich den gewohnten Lebensstandard noch leisten zu können, greifen Bürger verstärkt zu Krediten. Beobachter warnen schon, spätestens 2021 könnte die Kreditblase platzen. Wütend sind die Russen auch über die Rentenreform, bei der das Einstiegsalter um fünf Jahre erhöht wurde, auf 65 für Männer und 60 für Frauen. Dabei sterben Männer im Schnitt mit knapp 65 Jahren. Die Rentenreform war für viele Putin-Anhänger ein schwerer Schock.

Bisher umgab Putin die Aura des Heiligen. Niemand wagte es, ihn anzugreifen. Der Präsident konnte sich immer aus den Niederungen der inländischen Politik heraushalten und wurde für sie auch nicht verantwortlich gemacht. Die Leidenschaft Putins gilt den außen- und weltpolitischen Belangen. Dieses Desinteresse könnte ihn aber noch teuer zu stehen kommen. Viele fragen sich, ob Russland im Syrienkrieg eine so große Rolle spielen soll. Vor allem für junge Leute rechtfertigen Großmachtinteressen keinen weiteren ökonomischen Verzicht. 

Zum zweiten Mal seit 20 Jahren steht Putins Regime vor dem Problem, wie es mit größeren Protesten umgehen soll. Gegen die Demonstrationen nach dem Wahlbetrug des Kremls 2011/12 ging das System mit Sicherheitskräften und drakonischen Strafen vor. Damals beteiligten sich sehr viel mehr Menschen am Protest. Das harte Durchgreifen von Polizei und Justiz trocknete den Widerstand jedoch aus. Moskaus Annexion der ukrainischen Halbinsel Krim und sein Mitmischen im Krieg in der Ostukraine 2014 ließen im Anschluss viele ehemalige Gegner die Seite wechseln. Heute ist der Protest in Moskau geringer, dafür aber entschlossener. Die jüngere Generation will sich nicht mehr wie die Eltern bevormunden lassen. Der Kreml greift indes nach wie vor auf die alte Strategie der Einschüchterung zurück. Laut der Politologin Tatjana Stanowaja nimmt der Verdruss in der Bevölkerung zu: „Putin verliert die Möglichkeit, die innenpolitische Agenda zu bestimmen.“

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