Pflege mit Systemfehler

Meinung · Nach der Pflegereform ist vor der Pflegereform. Denn die Liste des Wünschenswerten bleibt lang. Natürlich ist es ein spektakulärer Fortschritt, wenn Arbeitnehmern ab 1. Juli ein sechsmonatiger Pflegeurlaub zusteht. Unbezahlt

Nach der Pflegereform ist vor der Pflegereform. Denn die Liste des Wünschenswerten bleibt lang. Natürlich ist es ein spektakulärer Fortschritt, wenn Arbeitnehmern ab 1. Juli ein sechsmonatiger Pflegeurlaub zusteht. Unbezahlt. Wer wird, wer kann ihn sich leisten? Es müssten auf Jahre ausgerichtete, flexible Freistellungs- und Teilzeit-Modelle her, um das zu realisieren, was die Politik angeblich seit Jahren voranbringen will: die ambulante, sprich heimische Pflege. De facto hat sich jedoch seit 2003 der Trend zum Heim verstärkt: 7,3 Prozent Zuwachs. Kein Wunder: Die Pflegeversicherung bezahlt in den Pflegestufen I und II für die Heimunterbringung mehr als für die Versorgung zu Hause. Das ist ein Systemfehler, den die Reform nicht korrigiert. Beibehalten wird auch die starre Einteilung in drei Pflegestufen, die dem wahren Betreuungs-Aufwand selten entspricht. Stattdessen pumpt der Bund 60 Millionen Euro in 3000 (!) "Pflege-Stützpunkte", also in Beratung. Auch in St. Wendel entstand ein solches Zentrum. Eine "Investition in Schreibtische"?Ja, es ist einfach, Defizite zu benennen. Doch es wird immer schwerer, sie zu beseitigen. Dschungelartig wächst das Geflecht aus Zuständigkeiten und Interessen. 8500 Altenheime und 13000 Pflegedienste gibt es, private, kirchliche und weitere gemeinnützige. Finanziert werden sie aus Pflegekassen, von Sozialhilfeträgern und den Gepflegten. Die Überwachung leisten Krankenkassen und staatliche Heimaufsicht. Und alle wollen verdienen, zumindest ihren Job sichern. Kritiker sprechen von einer "Zuteilungswirtschaft", die weniger den Patienten denn sich selbst versorgt. Tatsächlich sind wir selbst mit den Heim-Kontrollen, die künftig verschärft werden, noch meilenweit entfernt von einem bürgernahen Qualitäts-Tüv für die Pflege. Er würde die Unterscheidung zwischen guten und schlechten Einrichtungen ermöglichen. Kurzum: Es liegen viele Haare in der Reform-Suppe. Wegschütten? Nur nicht. Denn mag die Reform auch kaum verbesserte Strukturen bringen, unstrittig profitieren die Betroffenen: Sie bekommen mehr Geld. Und die politische Bewertung? Mangelhaft. Wie schon bei der Gesundheitsreform hatte die Koalition wieder nicht den Mumm für eine System-Umwälzung. Also löhnen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, eine demographiegerechte Sicherung der Pflegekasse blieb auf der Strecke. Bereits 2015 muss nachgebessert werden, dann unter akutem Druck: Bis 2030 wird es 58 Prozent (!) mehr Bedürftige geben. Dass die Regierung heute den Kopf in den Sand steckt, hat also nichts Neckisches, sondern ist grob fahrlässig.

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