Oettinger wird unverhofft zum EU-Sparkommissar

Brüssel · Es könnte der Beginn eines größeren Stühlerückens in Europas wichtigster Behörde werden: Günther Oettinger (62), als deutscher EU-Kommissar bisher für digitale Fragen wie Urheberrecht und Breitbandausbau zuständig, wird nun auch noch den EU-Haushalt verwalten dürfen. Zunächst einmal zwar nur für (mindestens) einen Monat. Denn seine Kollegin, die Bulgarin Kristalina Georgiewa (63) gilt als aussichtsreiche Anwärterin auf den Stuhl des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, der in den nächsten Monaten neu zu besetzen ist. Für ihren "Wahlkampf" wechselt sie nach New York. Die studierte Ökonomin war von 2009 bis 2014 für humanitäre Hilfe der EU zuständig und hat sich dabei viel Ansehen erworben. Georgiewa war zuletzt Vizepräsidentin der EU-Kommission, was Oettinger zusätzlich aufwerten würde.

Oettingers zunächst zeitweilige Beförderung kommt nicht von ungefähr. Dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker auf den Ex-Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg verfiel, beschrieb eine Sprecherin als "logische Wahl". Immerhin sei der CDU-Politiker der "dienstälteste Kommissar". Er und Juncker schätzen sich. Juncker wie Oettinger gelten als "Aktenfresser" und Politiker, die sich erst in Dossiers einarbeiten, ehe sie sich öffentlich dazu äußern. Dieser Ruf erlaubt Oettinger, sich politischer zu äußern als seine Kollegen. Erst vor wenigen Tagen diagnostizierte er in einem Interview, Europa schwebe "in Lebensgefahr". Noch deutlicher wurde er vor kurzem bei einer Rede vor dem Telekommunikationsverband ETNO in Brüssel . Als Oettinger auf das Brexit-Votum zu sprechen kam, ging er Ex-Premier David Cameron frontal an: Man müsse die demokratische Entscheidung akzeptieren - und eine "Scheiß-Kampagne von Cameron", formulierte er und setzte dann hinzu: "Aber shit happens" (zu deutsch etwa: dumm gelaufen). Solche Aussagen würde Juncker wohl keinem anderen Mitglied seiner Kommission durchgehen lassen.

Oettingers Übernahme des Haushaltsressorts kommt zu einem brisanten Zeitpunkt. In den nächsten Wochen steht eine Überprüfung der EU-Ausgaben an. Man erwartet sich dabei vor allem erstmals konkrete Aussagen darüber, welche Lasten im Falle eines Ausscheidens der Briten aus der Union auf die Mitgliedstaaten zukommen. Nicht nur Deutschland drängt darauf, dass die EU-Aufgaben zurückgestutzt werden und sich Brüssel auf Kernbereiche europäischer Zusammenarbeit konzentriert. Das hatte Georgiewa zwar in ihrem Entwurf angelegt, aber nicht so deutlich, wie sich die Bundesregierung das erhoffte.

Wie lange Oettinger das neue Dossier zu betreuen hat, ist ungewiss. Die Aussichten der Bulgarin auf den Chefposten bei der UN werden als "ausgezeichnet" beschrieben. In dem Fall dürfte die Regierung in Sofia ein neues Kommissionsmitglied benennen, Juncker nimmt die Aufgabenzuweisung vor. Und dabei könnte er, so ist zu hören, einige Ressorts umstellen und begradigen, was er beim Start seiner Kommission zunächst ausgelassen hat: dem deutschen Kommissar eine hervorgehobene Stellung geben. Etwa als Vizepräsident. Oettingers Chancen stehen gut.

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