Obamas Gesundheitsreform hängt an einem Richter

Washington. Anthony McLeod Kennedy (75) ist am obersten Gericht der USA, dem Supreme Court, immer für eine Überraschung gut. Mal verbündet sich der vom republikanischen Präsidenten Ronald Reagan Ende der 80er Jahre berufene Verfassungsrichter mit den vier liberalen Kollegen im insgesamt neunköpfigen Gericht

Washington. Anthony McLeod Kennedy (75) ist am obersten Gericht der USA, dem Supreme Court, immer für eine Überraschung gut. Mal verbündet sich der vom republikanischen Präsidenten Ronald Reagan Ende der 80er Jahre berufene Verfassungsrichter mit den vier liberalen Kollegen im insgesamt neunköpfigen Gericht. Etwa um die Ausweitung der Todesstrafe auf Minderjährige zu verhindern oder die Rechte von Homosexuellen auszuweiten. In anderen Fällen findet sich der gebürtige Kalifornier fest im Lager der vier Konservativen am Verfassungsgericht wieder. Allen voran bei der knappen Entscheidung, mit der die Richter im Jahr 2000 George W. Bush die Präsidentschaft auf dem Silbertablett servierten. Unter Gerichtsbeobachtern besteht nicht der geringste Zweifel, dass der unberechenbare Kennedy auch bei dem für heute zu erwartenden Urteil über die Jahrhundertreform des amerikanischen Gesundheitswesens das Zünglein an der Waage sein wird. Kein Wunder, dass jedes Wort des hochgewachsenen Richters mit der rahmenlosen Brille und Vorliebe für französische Manschetten genauestens unter die Lupe genommen wird. Was meinte er wohl bei den Anhörungen im Frühjahr mit der an den Rechtsvertreter des Präsidenten gerichteten Feststellung, dass die Gesundheitsreform "das Verhältnis der Regierung zu den Individuen fundamental verändert?". Die Mega-Reform, die Präsident Barack Obama in einem harten Kampf gegen die Republikaner durchgesetzt hat, sieht unter anderem eine Verpflichtung für jeden Amerikaner vor, eine Gesundheitsversicherung abzuschließen - im Freiheits-fixierten Amerika für viele eine Zwangsbeglückung.Im Unterschied zu dem verbalen Schnellfeuergewehr Antonin Scalia wirkt Kennedy, der seit 1988 auf der Richterbank sitzt, fast schüchtern. Er ist aber auch kein Schweiger wie der konservative Clarence Thomas, der seit Jahren nicht eine einzige Frage gestellt hat. Wenn er etwas von den Parteien wissen will, formuliert er präzise und auf den Punkt. Kennedys Rechtsphilosophie bleibt aufgrund seiner Pendelschwünge bei Entscheidungen ein Rätsel, das die amerikanischen Medien fasziniert. So sehr, dass das Nachrichtenmagazin "Time" dem "Wechsel-Wähler" kürzlich die Titelgeschichte widmete.

Einen Hinweis auf seine Leitideen gab der Literatur-Liebhaber, als er einmal über seine Vorliebe für George Orwells Roman "1984" sprach. Dessen Buch sei eine klare Warnung, vor Regierungen, "die das Schicksal ihrer Bürger zu bestimmen versuchen". Auf den anhängigen Streit übertragen, hängt nun vieles davon ab, ob Kennedy mit den Klägern aus den 26 republikanisch geführten Bundesstaaten übereinstimmt, die in der Gesundheitsreform einen massiven Eingriff in die individuellen Freiheitsrechte sehen. Oder hält er das Gesetz aufrecht, weil es sich bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen nicht um eine individuelle Wahl, sondern unvermeidbare Notwendigkeit handelt, weil jeder bei Krankheit Hilfe braucht? In jedem Fall dürfte es die wichtigste Entscheidung seiner Laufbahn werden, die mit einem Studium an den Elite-Unis Stanford und Harvard begann.Foto: dpa

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