Nadelstiche gegen den Riesen

Ch inas großer Reformer Deng Xiaoping hat den Weg vorgezeichnet, als die britische Kronkolonie Hongkong 1997 wieder chinesisch wurde: Seine Formel "Ein Land, zwei Systeme" lässt die Bürger für weitere 50 Jahre den Kapitalismus pflegen, wie sie es unter britischer Herrschaft gewohnt waren.

Inzwischen aber hat die Kommunistische Partei selbst den Kapitalismus entdeckt , und Hongkong entdeckt gerade etwas anderes: Demokratie .

Das geschäftige Treiben in den Bars und Einkaufstempeln der glitzernden Finanzmetropole reicht vielen Menschen nicht mehr. Hongkong ist heute eine andere Stadt als noch vor zehn Jahren. Schlechtes Regieren hat sich breitgemacht. Nepotismus, Korruption und die Gewalt des chinesischen Politik-Systems sickern ein in die Stadt, die so lange asiatisches Paradebeispiel für Rechtsstaatlichkeit und faire wie freie Marktwirtschaft war. Die Befürchtung, eine normale chinesische Stadt zu werden, in der die Bürgerrechte mit Füßen getreten werden, treibt einige Bürger nun um. Aufgerüttelt von einer Jugend, die das Leben unter der britischen Krone gar nicht kannte, die aber sehr gut um den chinesischen Einfluss weiß und die KP verabscheut.

Nicht alle in der Stadt sind gegen Peking , Hongkongs milliardenschwere Unternehmen stehen auf der Seite der Regierung. Doch diejenigen, denen die wirtschaftliche Not immer mehr zusetzt, wollen die Freiheiten behalten, die sie in Hongkong noch haben. Sie wollen gar mehr: eine freie Wahl, die Peking versprochen hatte und nun durch seine groteske Wahlreform verhöhnt. Die Jugend treibt seit Tagen die Regierung ihrer Stadt vor sich her, und sie piesackt auch den chinesischen Riesen. Peking glaubte, die Macht der Straße unter Kontrolle zu haben. Jetzt aber gibt es wieder Bilder, die an den Aufstand auf dem Tiananmen-Platz vor 25 Jahren erinnern. An die friedlich demonstrierenden Studenten, an Bürger, Arbeiter - und an einen Staat, der seine Armee aufs Volk hetzte und es niedermetzeln ließ. Das macht den Hongkonger Studenten Angst. Es macht aber auch der Pekinger Führung Angst. Aufgebrachte Demonstranten kann sie für ihre oft gepredigte Harmonie nicht gebrauchen und reagiert, zumindest auf dem Festland, in der erprobten Weise - mit Zensur.

Die breite chinesische Masse weiß nichts über die Proteste in Hongkong. Deshalb wäre es naiv zu glauben, der Funken könnte überspringen. Ohnehin kämpfen Hongkongs Demonstranten in erster Linie für ihre Stadt. Der Ruf nach Absetzung ihres Regierungschefs ist ein geschickter Coup: So reizen sie Peking nicht weiter und schaffen eine erste Plattform für Gespräche. Daran ist die Zentralregierung allerdings nicht interessiert. Sie kann mit Kompromissen nichts anfangen, hat nie gelernt nachzugeben. Doch je härter Peking und seine Marionetten in Hongkong reagieren, desto mehr Demonstranten strömen auf die Straßen. Es bahnt sich eine Konfrontation an. Keine Lösung.

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