Großbritannien Nach Corbyns Rauswurf droht Labour die Spaltung

London · Vor einem Jahr wollte er noch Premierminister des Vereinigten Königreichs werden. Nun wurde der ehemalige Vorsitzende Jeremy Corbyn aus seiner Labour-Partei ausgeschlossen – nach beinahe 40 Jahren im Parlament und fünf Jahren als Oppositionsführer.

 Fünf Jahre lang war der linksgerichtete Jeremy Corbyn Chef  der britischen Labour-Partei.

Fünf Jahre lang war der linksgerichtete Jeremy Corbyn Chef der britischen Labour-Partei.

Foto: dpa/Jacob King

Es handelte sich um einen Paukenschlag, der weit über Westminster hinaushallte. „Eine Entscheidung von historischem Ausmaß“ sei getroffen worden, waren sich die Medien auf der Insel einig. Und sie könnte Labour auf viele Jahre beschäftigen – oder gar endgültig spalten.

Dabei sollte der unabhängige Untersuchungsbericht, der am Donnerstag vorgestellt worden war, eigentlich einen Schlussstrich unter die seit Jahren brodelnden Antisemitismus-Vorwürfe ziehen. Das Gegenteil ist passiert. Der aktuelle Labour-Chef Keir Starmer sprach von einem „Tag der Schande“. Er hatte bereits im April bei der Übernahme des Amts eine „Nulltoleranzpolitik“ beim Thema Antisemitismus angekündigt. Dies scheint dringend notwendig, wie der Report der britischen Kommission für Gleichheit und Menschenrechte (EHRC) nahelegt. Er stellte fest, dass Labour und deren ehemaliger Chef Corbyn Diskriminierung und Schikanen gegen Juden zugelassen hätten. Mehrere Parlamentarier hatten aus Protest sogar Labour verlassen. Corbyn habe „die Augen verschlossen“, wenn er mit Klagen von Kollegen konfrontiert wurde, berichtete die Ex-Parlamentarierin Luciana Berger.

Genauso klagten jüdische Labour-Mitglieder regelmäßig über Drohungen von Anhängern des linken Flügels. Nach der Veröffentlichung des Berichts erwarteten Beobachter demnach eine Entschuldigung von Corbyn. Der Altlinke aber reagierte – wie bereits seit Jahren bei dem Thema – stur und schob alle Schuld von sich. Jeder Antisemit sei einer zu viel, schrieb er auf Facebook, aber das Ausmaß des Problems werde „aus politischen Gründen von unseren Gegnern innerhalb und außer­halb der Partei wie auch von vielen Medien dramatisch überbewertet“.

Dies war nicht die Antwort, die Labour sich gewünscht hatte. Und so wurde Corbyn mit dem Segen Starmers suspendiert. Im Parlament sitzt der 71-Jährige zumindest so lange als unabhängiger Abgeordneter bis die Untersuchungen zu seinen Äußerungen beendet sind. Die Frage ist, ob die Sozialdemokraten in der breiten Wählerschaft von Starmers kompromisslosem Handeln profitieren werden. Oder ob Corbyns vor Wut schäumende Anhänger den Streit zur Eskalation bringen. Schon Stunden später kündigten zahlreiche Mitglieder aus Protest ihre Mitgliedschaft. Hinter den Kulissen ist die Sorge vor einer Spaltung der Partei groß.

Starmer, der in Corbyns Schattenkabinett als Brexit-Minister diente, versuchte am gestrigen Freitag, die Gemüter zu beschwichtigen. Es gebe keinen Grund für einen „Bürgerkrieg“. Das jedoch scheinen die sogenannten Corbynistas anders zu sehen. Deren Gallionsfigur, die unter anderem für seine einseitige Unterstützung der Palästinenser im Nahostkonflikt in der Kritik stand, wurde von etlichen jungen Menschen lange Zeit wie ein Rockstar frenetisch bejubelt. In der übrigen Bevölkerung wie auch unter den moderaten Labour-Anhängern kam der Sozialist weniger gut an mit seinem radikal linken Kurs, seiner schwammigen Position und Ignoranz beim Thema Brexit. Aber ebenso schadeten die nicht aufhörenden Antisemitismus-Vorwürfe dem Image von Labour. Die Partei zerfleischte sich selbst. Und verlor bei den letzten beiden Wahlen, 2017 wie auch im Dezember 2019, mit Corbyn an der Spitze. Starmer wollte sich wieder als ernsthafte Alternative zu den Konservativen unter Premierminister Boris Johnson präsentieren. Doch der Kulturkampf bei Labour geht weiter.

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