Nach der Wahl Europa bekommt eine Chance zum Neustart

Brüssel · War das nun wirklich die Schicksalswahl, von der viele Volksvertreter vor dem Urnengang gesprochen hatten? Dann fällt die Botschaft so vielfältig und widersprüchlich aus, wie diese 28er Gemeinschaft eben ist.

Gemeinsamkeiten sind kaum auszumachen. In Deutschland verlieren die Volksparteien geradezu erdrutschartig, in anderen Ländern ist genau das Gegenteil der Fall. Der befürchtete Rechtsruck ist ausgeblieben, obwohl Rechte und Nationalisten stark vertreten sind und eine geballte Kraft bilden werden. Der Siegeszug der Grünen fußt auf wenigen Mitgliedstaaten. Und die erstarkten Liberalen hängen erheblich am Tropf des französischen Staatspräsidenten. Europa ist nicht einfacher, sondern anstrengender geworden. Mehrheiten sind nicht länger von den beiden großen Parteienfamilien zu erreichen. Ein Konsens muss ausgehandelt und von breiteren Schultern getragen werden. Genau das wollte der Wähler.

Und so werden die Bürger, die mit erfreulich hoher Beteiligung dieses Parlament zusammengesetzt haben, in Zukunft deutlich öfter vom Ringen um politische Lösungen hören. Das ist gut so, denn es lässt sie spüren, dass hier tatsächlich ein gleichwertiger europäischer Gesetzgeber agiert, der mehr als nur ein Erfüllungsorgan der Regierungschefs ist und der den besten Weg demokratisch erarbeiten muss. Die EU wird durch ihre Vielfalt und Widersprüchlichkeit nicht schwächer, sondern stärker, sofern sie zu Kompromissen in der Lage ist, die alle als Errungenschaft annehmen können. Gerade weil die Union eben nicht der zentralistisch geführte Superstaat und bevormundende Bürokratie-Apparat ist, als der ihre Institutionen oft hingestellt wurden. Die Bürger haben, was sich alle Wahlkämpfer so sehr gewünscht hatten, das Parlament mit Gewicht ausgestattet. Das sollte die Volksvertreter ermutigen, ihre Verantwortung wahrzunehmen – notfalls auch gegen die Europäische Kommission und die Staats- und Regierungschefs.

Wenn es wirklich so etwas wie eine zentrale Botschaft der Wähler an ihre Abgeordneten gibt, dann lautet die: Macht eure Arbeit. Ansonsten strafen wir euch ab. Ob Klimaschutz oder Sozialunion, ob Migration oder Künstliche Intelligenz – die Menschen in den Mitgliedstaaten wollen Ergebnisse und Taten sehen. Bedenkenträger werden gnadenlos aussortiert. Die Parteien sollten verstehen, dass traditionelle Bindungen längst nicht mehr zählen. Quer durch alle Alters- und sozialen Gruppen wandern die Sympathien zu denen, die es verstehen, konkrete Antworten anzubieten. Deshalb wurden in einigen Fällen mit den Stimmzetteln klare Aufträge erteilt sowie in anderen große Parteien abgewatscht – und auch vermeintliche Hoffnungsträger vom Thron gestoßen.

Dass die überwiegende Mehrheit in dem Hohen Haus auch künftig von Pro-Europäern gestellt wird, ist eine Errungenschaft, aber eben auch ein Vertrauensvorschuss. Die Wahlkämpfer haben in den vergangenen Wochen große Hoffnungen geschürt – an ein selbstbewusstes Europa, das sich Handelskriegen ebenso entgegenstellt wie dem Ausverkauf der eigenen Werte durch mangelnde Solidarität untereinander. Nun werden die Wähler darauf pochen, dass auf diese Herausforderungen Antworten gefunden werden. In der ablaufenden Legislaturperiode haben sich die Mitgliedstaaten mit dem Parlament mehr als 380 Mal über zum Teil gravierende und schwierige Themen verständigt. Das darf man in Brüssel durchaus als stolze Bilanz sehen. Aber die Liste der nicht erreichten Verständigungen ist aus Sicht der Bürger deutlich länger und gewichtiger. Das darf nicht so bleiben. Europa hat die Chance eines Neustarts bekommen. Daraus kann man viel machen. Neuen Mehrheitsverhältnisse dürfen keine Ausrede sein.

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