Nach dem Brexit-Schock wachsen Zweifel an Juncker

Brüssel · Der Mann wirkte angeschlagen. Wer will es Jean-Claude Juncker verdenken? Mehr als drei Jahrzehnte mischt der jetzt 61-jährige Luxemburger mit in der Europa-Politik. Mehr als 18 Jahre davon als Luxemburger Regierungschef, acht Jahre als Chef der Euro-Gruppe , seit 2014 als Präsident der EU-Kommission, die Behörde mit 33 000 Mitarbeitern, die die Hüterin der Verträge ist. Und jetzt das: Das Ja der Briten zum EU-Austritt.

Kaum jemand steht so für das Europa, das die Briten abgestraft haben, wie Juncker. Dass es Rücktrittsforderungen gegen ihn gibt - geschenkt. Sie kommen von politischen Leichtgewichten oder von Menschen, die der EU ohnehin nicht wohl gesonnen sind. Doch die Attacken gegen Juncker in einigen Medien haben zugenommen. Rücktrittsabsichten hatte er vor dem schwarzen Freitag ausgeschlossen. Doch in Brüssel fragen sich manche: Wirft Juncker hin? Als sicher gilt, dass, sollte er damit spielen, andere versuchen werden, es ihm auszureden: die Regierungschefs , Parlamentspräsident Martin Schulz (SPD ) und Ratspräsident Donald Tusk . Eine weitere Destabilisierung wollen alle verhindern.

Der deutsche Kommissar Günther Oettinger (CDU ) nimmt indirekt Juncker in Schutz. Am schlechten Erscheinungsbild der EU in der Öffentlichkeit seien in erster Linie nicht Kommission und Parlament schuld, sondern die "nationalen Egoismen" der Mitgliedsstaaten. Da ist etwas dran, in der Griechenland- und in der Flüchtlingskrise lag es nicht an der Kommission, sondern an der Zerstrittenheit der Staats- und Regierungschefs , dass Lösungen erst so spät gefunden wurden. Tatsache ist aber: Juncker hat sein Amt als Chef der Kommissare mit hohem Anspruch verbunden. Er trat Ende 2014 seinen Job mit der Ansage an, eine "politische" Kommission zu leiten.

Freilich, Juncker trat nicht mehr auf als Chefstratege Europas, der einer weiterer Vertiefung das Wort redete. Er wusste, wie wenig Zustimmung die Idee einer immer engeren Union ("ever closer union") in der Bevölkerung derzeit findet. Und Juncker handelte entsprechend. Er gab an die Kommissare die Losung aus, dass sie sich in kleinen Fragen zurückhalten und dafür in den großen Fragen Größe und Ehrgeiz zeigen sollten. In seinem engeren Umfeld achtet man sehr genau darauf, wenn in einem Mitgliedsstaat ein Gesetzgebungsvorstoß der Kommission auch nur in den Geruch von überbordender Bürokratie gerät. Der Anspruch, ein "politischer" Kommissionspräsident zu sein, passt auch zu gewissen Freiheiten, die sich Juncker leistete: So interpretiert er den Euro-Stabilitätspakt sehr lässig, indem er Haushaltssünder Frankreich sehr zum Ärger vieler Kritiker seine Verstöße durchgehen lässt.

Eigentlich müsste nun jemand mit Elan wieder positiven Schwung in die Europa-Debatte bringen. In Brüssel wird bezweifelt, ob Juncker dazu die Kraft hat. Ein Schlaglicht darauf, auf welche Politiker man in der Krise in Berlin setzt, wirft die Einladungsliste Angela Merkels für das heutige Treffen in Berlin: Die Regierungschefs Italiens und Frankreichs sind geladen, die Präsidenten von EU-Parlament und Kommission werden aber nicht erwartet.

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