Mit Vernunft lässt sich die Angst überwinden

New York · Wer an den Festtagen, die für viele Deutsche von Schock und Trauer über die Toten von Berlin geprägt sein werden, etwas über den Umgang mit der täglichen Terror-Bedrohung lernen will, sollte nach New York schauen. Keine Metropole der westlichen Welt ist bisher härter von der Wut islamischer Radikaler getroffen worden. Am 11. September 2001 starben dort nahezu 3000 Menschen in kürzester Zeit in den zusammenstürzenden World-Trade-Center-Türmen - ein Vielfaches mehr als auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin.

Und doch sitzt die Furcht in diesen Tagen tief in Deutschland: Furcht vor weiteren Attacken gegen Unschuldige. Vor weiteren Beispielen für das gnadenlos sichtbare Versagen und die Unzulänglichkeiten des existierenden Sicherheits- und Rechtssystems, das offensichtlich immer noch nicht in der Lage ist, auf gewonnene Informationen und die neuen durch die Politik begünstigten Herausforderungen angemessen zu reagieren. Die Glaubenskrieger, aus Nahost importiert oder hausgemacht, haben längst erkannt, welche Vorteile ihnen ein zum Teil seit Jahren ineffektives Überwachungs- und Abschiebesystem bietet.

Man kann diesen Status Quo beklagen und akzeptieren - und sich zurückziehen. Oder man kann andere Konsequenzen ziehen: In der Gefahrenzone New York werden in der Silvesternacht am Times Square Hunderttausende Menschen aus aller Welt den Jahreswechsel feiern. Unbeeindruckt von Terror-Ängsten - obwohl sie wissen, dass der "Big Apple " weiter als globales Ziel Nummer eins für Dschihadisten gilt. Sie wissen aber auch: Seit 2001, dem Jahr der Mega-Tragödie, sind im Land nur rund 150 Menschen das Opfer von religionsgesteuerten Extremisten geworden. Soviel Menschen sterben sonst in einem einzigen Monat in den Ghettos von Chicagos berüchtigter South Side durch Schusswaffen-Gebrauch.

Was oft angesichts der Horror-Schlagzeilen vergessen wird: Die Wahrscheinlichkeit, in seinem Leben einem Akt des Terrors zum Opfer zu fallen, ist in den westlichen Ländern - Deutschland inklusive - trotz der Dramatik der Ereignisse in Berlin verschwindend gering. Wesentlich gefährlicher ist der tägliche Weg zum Arbeitsplatz, ein Gewitter-Spaziergang oder eine Skiabfahrt. Das kann die Angehörigen der Toten natürlich nicht trösten. Aber diese Fakten könnten vielleicht dazu führen, dass die Furcht nicht den Lebensalltag dominiert.

Dazu würde in Deutschland auch - am Beispiel New York gut sichtbar - eine professionell agierende Polizeipräsenz beitragen. Ungeahndete Belästigungs-Szenen wie vor einem Jahr auf der Kölner Domplatte sind selbst im Gedränge des Times Square undenkbar. Oder dass große Outdoor-Veranstaltungen ohne jede Absicherung stattfinden, obwohl es ja hinreichende Warnungen gab. Ebenso undenkbar ist, dass in den USA - einer auf Einwanderern aufgebauten Nation - Flüchtlinge aus Krisenregionen ungeprüft, unregistriert und unbefragt einreisen. Das alles minimiert noch das ohnehin geringe Terror-Risiko, obwohl die subjektive Empfindung nach den Eindrücken von Berlin natürlich momentan eine andere Sprache spricht. Wer es dennoch in diesen Tagen schafft, das Thema Terrorismus einer vernünftigen Betrachtung zu unterziehen, müsste einen großen Teil der Angst überwinden können, die derzeit in vielen Herzen wohnt.