Die „Erweiterungsmüdigkeit“ lässt Brüssels Einfluss schwinden Verliert die EU den Balkan an Russland und China?
Belgrad · Für die Menschen in Südosteuropa, an der Peripherie der EU, war 2019 kein gutes Jahr. Anders als versprochen, gab der EU-Rat im Oktober kein grünes Licht für den Beginn von Beitrittsgesprächen mit Nordmazedonien und Albanien – Frankreich und wenige andere stellten sich quer.
In Serbien und Montenegro, zwei Länder, die bereits über den EU-Beitritt verhandeln, verstärkten sich die autoritären Tendenzen der dort regierenden Kräfte. Der Druck auf Oppositionelle und kritische Medien nahm zu.
Das Nein zu neuen EU-Beitrittsgesprächen war besonders für Nordmazedonien verheerend. Die Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zoran Zaev stürzte in eine Krise und musste vorgezogene Parlamentswahlen am 12. April ansetzen. Sie hatte eine erhebliche Vorleistung erbracht: indem sie das Land im Februar gegen massive Widerstände der nationalistischen Opposition von Mazedonien in Nordmazedonien umbenannte, legte sie den unseligen Namensstreit mit Griechenland bei.
Dabei hatte die Union schon 2003, bei einem Gipfel im griechischen Thessaloniki, feierlich deklariert, dass alle Staaten des westlichen Balkans eine Beitrittsperspektive haben sollen. Doch nur Kroatien hat es seitdem geschafft, im Jahr 2013 Mitglied zu werden. Für die anderen scheint die Perspektive am Horizont zu verschwimmen. Sie drohen sie aus den Augen zu verlieren – droht umgekehrt die EU den Balkan zu verlieren?
Äußere Mächte wie Russland, China und die Türkei stehen als scheinbare Alternativen auf der Matte. „Die EU hat ein Vakuum hinterlassen, das Russland bereitwillig ausfüllt“, meint Sonja Biserko, die in Belgrad das Helsinki-Komitee für Menschenrechte führt. „China kommt wiederum mit sehr viel Geld, das in Form von Krediten, ohne Standards und Kriterien, vergeben wird.“ Moskau stärkt vor allem Serbien den Rücken, das den Verlust seiner einstigen Provinz Kosovo nicht hinnehmen will.
In Bosnien-Herzegowina unterstützt Russland den starken Mann des serbischen Landesteils, Milorad Dodik. In dem ohnehin zerrissenen, im Krieg von 1992 bis 1995 verwüsteten Land lähmt Dodik mit seinen separatistischen Allüren die Institutionen. In Montenegro sollte ein von russischen Agenten geplanter, aber gescheiterter Putsch im Oktober 2016 den Nato-Beitritt des Landes vereiteln. Russlands strategisches Ziel ist es, auf dem Balkan einen „Gürtel militärisch neutraler Länder“ zu schaffen, wie dies 2017 der russische Botschafter in Skopje laut interner Dokumente im Außenministeriums des Gastlandes vortrug.
China verfolgt mit seiner Strategie der „Neuen Seidenstraße“ ein kontinenteübergreifendes Konzept zur Durchsetzung seiner Wirtschaftsinteressen. Dem Balkan kommt dabei eine Rolle als Transitraum zu. Peking erwarb Mehrheitsanteile am griechischen Hafen Piräus und modernisiert die Eisenbahn zwischen Belgrad und Budapest. Die Projekte werden aber stets mit gar nicht so billigen Krediten chinesischer Staatsbanken finanziert. Chinesische Staatsfirmen führen sie aus, oft mit eigens aus China „importierten“ Bauarbeitern. Die Wertschöpfungsbilanz für die Empfängerländer fällt mager aus. Montenegro droht wegen einer von China finanzierten Autobahn heillos in eine Schuldenfalle zu tappen.
Die Türkei unter dem Autokraten Recep Tayyip Erdogan sucht wiederum – aber nicht ausschließlich – die Nähe zu muslimischen Politik-Faktoren auf dem Balkan. Die SDA-Partei, die weitgehend den bosniakisch-muslimischen Teil Bosniens kontrolliert, verehrt ihn als Heilsbringer. Aber auch der serbische Präsident Aleksandar Vucic kann gut mit ihm. Erdogans Interessen sind zum einen wirtschaftlicher Natur: der Absatz türkischer Waren. Zum anderen strebt er geopolitischen Einfluss an.