Mit der Verantwortung kommt die Charme-Offensive

London/Berlin. Vor dem Wahlkampf hatte es Angela Merkel bei einem London-Besuch vermieden, sich mit David Cameron zu treffen. Heute empfängt sie den neuen britischen Premierminister mit militärischen Ehren im Kanzleramt. Die ersten Auslandsreisen des konservativen Regierungschefs führen nach Paris und Berlin, erst dann folgt der Antrittsbesuch in Washington

London/Berlin. Vor dem Wahlkampf hatte es Angela Merkel bei einem London-Besuch vermieden, sich mit David Cameron zu treffen. Heute empfängt sie den neuen britischen Premierminister mit militärischen Ehren im Kanzleramt. Die ersten Auslandsreisen des konservativen Regierungschefs führen nach Paris und Berlin, erst dann folgt der Antrittsbesuch in Washington.Es ist eine Charme-Offensive in Richtung Europa. Sie zeigt, dass Cameron als Premier längst nicht so heiß zu essen gedenkt, wie er als Parteichef der Konservativen kochte. Als er noch Oppositionsführer war, versprach er dem "euroskeptischen" Flügel seiner Partei einen Volksentscheid gegen die Lissabon-Verträge. Die Europa-Abgeordneten der Tories mussten die Gruppe der konservativen Volksparteien verlassen - sie erschien Cameron zu "integrationsfreundlich". Die britischen Konservativen schlossen sich deshalb dem Bündnis der ultrarechten, europafeindlichen Splitterparteien an. Im Koalitionsvertrag, den der Regierungschef mit den Liberaldemokraten schloss, wird nun jedoch eine "positive Rolle in Europa" ausdrücklich hervorgehoben. Vom "Zurückholen britischer Souveränität" aus Brüssel ist dagegen nicht mehr die Rede. Dort gingen die neuen britischen Minister bei ihren ersten Auftritten auf Katzenpfoten. Ohne großes Trara nahm es Schatzkanzler George Osborne hin, dass sein Widerstand gegen eine schärfere Regulierung der Hedgefonds von seinen europäischen Kollegen überstimmt wurde. Zudem kündigte die britische Regierung an, künftig würden alle Brüsseler Vereinbarungen zur Übertragung juristischer Kompetenzen auf die EU von "Fall zu Fall" entschieden - und nicht mehr prinzipiell abgelehnt. Der Historiker Timothy Garton Ash folgert aus Osbornes Auftritt in Brüssel, dass London von nun an unangenehme EU-Direktiven "mit der Eleganz eines viktorianischen Weltenbummlers schluckt, dem in einem Beduinenzelt Schafsaugen zum Essen vorgesetzt werden".Die "EU-Fresser" unter den Konservativen befriedigte Cameron mit der Ernennung von William Hague zum Außenminister. Der 49-Jährige gilt als ausgesprochener Europa-Skeptiker. Seine Rolle in der britischen EU-Politik wird allerdings durch Vize-Premier Nick Clegg neutralisiert. Ebenso wie seine liberaldemokratische Partei ist Clegg überaus EU-freundlich. Er arbeitete für die Brüsseler Kommission und war Abgeordneter in Straßburg. Seine Mutter ist Holländerin, seine Frau stammt aus Spanien. Clegg selbst spricht fließend deren Sprachen, zudem Deutsch und Französisch. So ist er in der neuen britischen Regierung der europäische Vorzeigeminister. Allerdings verpflichteten sich die Liberaldemokraten im Koalitionsvertrag mit den Konservativen, dass sie die Einführung des Euro und den Beitritt zum Schengen-Abkommen nicht mehr zur Sprache bringen werden.Angesichts der schwierigen Weltwirtschaftslage, des Klimawandels und "der ganzen Bandbreite der globalen Herausforderungen", die Cameron und Merkel heute in Berlin besprechen wollen, ist das Thema Europa allerdings nur ein überschaubares Kapitel. Aus Pragmatik und Kompromissbereitschaft besteht der Mörtel, der die britische Koalitionsregierung zusammenhalten soll - dasselbe Rezept will David Cameron auch in seiner Politik gegenüber der EU anwenden.

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