Experten sind skeptisch Ist Deutschland eine Umwelt-Mogelpackung?

BERLIN (dpa) 71 Mal auf 185 Seiten: So oft steht das Wort „nachhaltig“ im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. In dem Dokument also, auf dessen Grundlage Deutschland seit vier Jahren regiert wird. Das Prinzip, bei Entscheidungen die langfristigen Folgen im Blick zu haben, soll in allen Ressorts das Leitmotiv sein. „Enkeltauglich“ hat Kanzlerin Angela Merkel das mal genannt.

BERLIN (dpa) 71 Mal auf 185 Seiten: So oft steht das Wort „nachhaltig“ im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und SPD. In dem Dokument also, auf dessen Grundlage Deutschland seit vier Jahren regiert wird. Das Prinzip, bei Entscheidungen die langfristigen Folgen im Blick zu haben, soll in allen Ressorts das Leitmotiv sein. „Enkeltauglich“ hat Kanzlerin Angela Merkel das mal genannt.

In diesem Juni vor 25 Jahren beschloss die Welt auf einer UN-Konferenz in Rio de Janeiro, sich selbst zu retten. Der damalige Kanzler Helmut Kohl begann dort 1992 seine Rede mit den Worten: „Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich zu dieser Verantwortung.“ Tut sie das, die Republik? Ist Deutschland heute „enkeltauglich“?

„Unser Land genießt einen guten Ruf für seine Expertise und Glaubwürdigkeit in Sachen Nachhaltigkeit“, sagte Merkel vor ein paar Tagen in Berlin, wo der Rat für Nachhaltige Entwicklung seine Jahreskonferenz abhielt. „Die positiven Einschätzungen zur Strategie sind uns eine Bestätigung dafür, dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Doch die Kanzlerin, die auch mal Umweltministerin war, fügte hinzu: „Sie sollten uns aber auch Ansporn sein, auf diesem Weg nun Schritt für Schritt voranzukommen.“

Deutschland hat demnach also noch einen Weg vor sich hin zur „enkeltauglichen“ Zukunft. Finden will die Regierung diesen Weg mit einer Nachhaltigkeitsstrategie von 2002, deren Neuauflage die Bundesregierung erst im Januar beschlossen hat. Sie orientiert sich an den 17 Nachhaltigkeitszielen der Agenda 2030 der Uno.

Die jüngste Bilanz dazu fällt für die Bundesrepublik ziemlich gemischt aus: Das Statistische Bundesamt verteilte strahlende Sonnen als Erfolgssymbol etwa für die Raucherquote, die Energiewende hin zu Ökostrom, die Wirtschaftsleistung, das staatliche Haushaltsdefizit und den Flächenverbrauch. Düstere Gewitterwolken gab es dagegen für Straftaten, Übergewicht, Artenvielfalt, Energieverbrauch im Güter- und Personenverkehr, hohe Mieten und Nitrat im Grundwasser.

„Deutschland ist Entwicklungsland. Deutschland ist insgesamt nicht auf einem nachhaltigen Pfad.“ So hart sagt es Marlehn Thieme, die Vorsitzende der Expertenkommission, die seit 2001 über Deutschlands Nachhaltigkeitsfortschritte wacht und richtet. Das Prinzip setze sich nicht automatisch durch, wenn es auf „Gewohnheiten und Gedankenlosigkeit“ oder gegen „harte Industrieinteressen“ antrete.

Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, dem die Juristin Thieme vorsitzt, will Nachhaltigkeit im Grundgesetz verankern. Bisher vergeblich – da zögerten die Parteien „allesamt“, sagt sie. Auch eine Abfrage bei den Parteien, was sie für nachhaltige Entwicklung konkret tun wollten, sei „etwas mau“ ausgefallen. „Daher möchte ich in den beginnenden Wahlkampf hinein sagen, seid mutiger“, appelliert sie an die Politik. Von vielen guten, aber für sich stehenden Projekten müsse man hinkommen zu einer echten Struktur.

Die Strukturen dafür sind eigentlich da. Neben dem Expertengremium gibt es auf politischer Ebene noch einen Staatssekretärausschuss für nachhaltige Entwicklung und den Parlamentarischen Beirat im Deutschen Bundestag, der achtgibt, dass das Parlament sich an die Nachhaltigkeitsstrategie hält.

Thieme ist zudem überzeugt, dass das Bewusstsein für die Bedeutung der globalen Nachhaltigkeitsziele wächst – weil der Klimawandel sichtbar werde, die Welt beim Rohstoffverbrauch an Grenzen stoße und das Bevölkerungswachstum Fragen nach Ernährung und Menschenwürde drängender mache. Deutschland, so glaube sie, könne „Motor für ein weltweites Nachhaltigkeitsmanagement werden“. Jetzt muss es nur noch, wie Merkel sagt, „Schritt für Schritt“ vorangehen.

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