Kühler Kopf gegen Erdogan

Ein militärischer Umsturzversuch ist keine Lappalie. Jede demokratisch gewählte Regierung hat die Pflicht, konsequent gegen Putschisten vorzugehen - und beim Militär aufzuräumen. Die Drangsalierung von Medien, Richtern und Staatsanwälten, wie wir sie derzeit in der Türkei erleben, ist aber mit Rechtsstaatlichkeit nicht in Einklang zu bringen - wie sie eine der Grundlagen der EU ist. Von diesen hatte sich Präsident Erdogan schon vor dem Putsch entfernt. Dabei verhandelt Brüssel mit Ankara seit Oktober 2005 über den Beitritt zur Union. Die Mahnungen an Ankara zu Demokratie, Meinungs- und Religionsfreiheit schienen dort aber nur so lange willkommen, wie sie der Stärkung der konservativ-islamischen Volkspartei AKP gegen die alten, laizistischen Eliten der Türkei dienten.

Die Entfremdung von EU und Erdogan-Türkei hat mit dem Putsch eine neue Dimension erreicht. Die Reaktion aus Ankara auf richtige Kritik ist schrill, feindselig, ja antieuropäisch. Die Frage nach dem Sinn weiterer EU-Beitrittsgespräche ist da nicht abwegig. Hellhörig sollte man aber werden, wenn sie aus Wien kommt, wo gerade Wahlkampf herrscht und ein Rechtspopulist nach dem Präsidentenamt greift. Das ist keine gute Basis für weitsichtige Politik in einer ernsten Krise.

Bedenke das Ende! Dass der Westen die Annexion der Krim durch Wladimir Putin mit dem Ausschluss Russlands aus dem G8-Gipfel bestrafte, war eine starke Botschaft. Damit ging aber ein Format verloren, Moskau einzubinden. Hier mag es Alternativen geben. Gravierender wäre ein Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei: Nicht nur würde ein Gesprächsfaden gekappt - und nebenbei das Aus des Flüchtlingspakts besiegelt. Begraben wäre auch die europäische Perspektive der Türkei. Und Erdogan hätte man ermöglicht, Brüssel dafür die Schuld zu geben. Das letzte ernsthafte Korrektiv für seinen Autokratie-Kurs wäre weg.

Sicher, die Chance für eine EU-Vollmitgliedschaft der Türkei war nie groß. Und die Bereitschaft zu Neuaufnahmen ist nach den letzten, holprigen EU-Erweiterungen noch gesunken. Auch das trug zum Europa-Frust Ankaras bei. Aber im Umgang mit Nachbarn steht die EU gerade vor einer Neujustierung - wegen des Brexit. Dass Angela Merkel der Türkei nur eine privilegierte EU-Partnerschaft in Aussicht stellen wollte, galt dort als Affront. Aber könnte dieser Trostpreis nicht zum erstrebenswerten Status werden, wenn ihn auch Großbritannien für sich zum Wunsch-Modell erklärt - nach langen Verhandlungen ?

Eine EU, die sich über ihre Zukunft nicht recht im Klaren ist, sollte jetzt keine irreversiblen Schritte tun. Die Zeiten sind kompliziert, ja bedrohlich. Da braucht man kühlen Kopf - und einen Schuss Pragmatismus.

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