Kleine Schritte des Wandels an der Wiege der Revolution

Tunis. Am Ende ging alles ganz schnell, nur vier Wochen nach der Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi. Als der Aufruhr nicht mehr einzudämmen war, als ausländische Reiseveranstalter tausende Touristen schleunigst nach Hause flogen, als Soldaten sich weigerten, auf Demonstranten zu schießen - da warf Zine el Abidine Ben Ali das Handtuch

Tunis. Am Ende ging alles ganz schnell, nur vier Wochen nach der Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohammed Bouazizi. Als der Aufruhr nicht mehr einzudämmen war, als ausländische Reiseveranstalter tausende Touristen schleunigst nach Hause flogen, als Soldaten sich weigerten, auf Demonstranten zu schießen - da warf Zine el Abidine Ben Ali das Handtuch. Der Staatschef, der 23 Jahre lang mit eiserner Faust über Tunesien geherrscht hatte, setzte sich am 14. Januar 2011 bei Nacht und Nebel nach Saudi-Arabien ab. Ein Jahr nach seinem Sturz ist in Nordafrika nichts mehr, wie es war.Die größten Gewinner des Arabischen Frühlings scheinen bislang die lange unterdrückten islamistischen Parteien zu sein. Sie waren zwar nicht immer die Speerspitze der Revolution, zeigten sich jedoch bei den folgenden Wahlen in Tunesien, Ägypten und Marokko als am besten organisiert und am wenigsten belastet durch Verstrickungen in die alten Regimes. Auf dem Weg des Wandels ist Tunesien, die Wiege der Jasminrevolution, wohl am weitesten fortgeschritten. Bei den ersten freien Wahlen in der Geschichte des Landes gewann die gemäßigt islamische Ennahda-Partei. Die gewählte Verfassunggebende Versammlung bestimmte mit dem Arzt Moncef Marzouki einen engagierten Kämpfer für Menschenrechte zum Präsidenten. Chef einer Koalition aus linken, liberalen und religiösen Parteien ist Hamadi Dschebali, der unter Ben Ali 15 Jahre lang im Gefängnis gesessen hatte.

Der erste Jahrestag der Befreiung wird heute mit gemischten Gefühlen gefeiert, denn der Wandel ist mühsam. Marzouki will die zahlreichen Paläste seines Vorgängers verkaufen und mit dem Erlös Beschäftigungsprogramme finanzieren. Das Schaffen von Jobs ist die vordringlichste Aufgabe der Regierung: Die Erwerbslosigkeit liegt bei geschätzten 18 Prozent; 700 000 meist junge Menschen suchen Arbeit. Im Landesinneren, weitab von Touristenregionen und Stränden, sind es sogar 28 Prozent.

Die Verzweiflung des 26-jährigen Mohammed Bouazizi war symptomatisch für die Situation auf dem Land, wo es keine Arbeit gab, kaum Bildungschancen, aber viel Schikane. Trotz seines Hochschulabschlusses war er arbeitslos, wollte seine Familie mit dem Verkauf von Gemüse durchbringen, bekam aber keine Lizenz. Als seine Ware immer wieder beschlagnahmt wurde und eine Polizistin ihn öffentlich ohrfeigte, zündete sich Bouazizi vor dem Rathaus seines Heimatortes Sidi Bouzid an und starb wenig später. Die Verzweiflungstat vom 17. Dezember 2010, auf einem heimlich aufgenommenen Video dokumentiert, machte die Jugend des Landes mobil. Und nach einem Monat blutiger Unruhen befeuerte die Flucht von Diktator Ben Ali die Demokratiebewegung im gesamten arabischen Raum.

Für die rund 40 000 Einwohner von Sidi Bouzid aber hat sich bis heute nicht viel verändert. Kürzlich stand die inmitten von Olivenhainen und Kakteen gelegene Stadt noch einmal im Blickpunkt, als Tunesien zum Jahrestag der Selbstverbrennung des jungen Bouazizi gedachte, der den Anstoß zur "Arabellion" gab. Die Hauptstraße wurde nach ihm benannt, ein marmornes Denkmal enthüllt. Und die versammelten Politiker versicherten, nicht länger nur in die Küstenregionen zu investieren. Präsident Marzouki versprach, der "lange vernachlässigten Region die Freude wiederzugeben". Sollte der neuen Führung das gelingen, wäre Tunesien zum zweiten Mal ein Vorbild für die arabische Welt.

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