Kein Kratzer im Lack von Kanadas Liebling

Vancouver · Sein Halloween-Kostüm könnte schon fast ein Sinnbild sein: Verkleidet als Pilot aus dem Bestseller "Der kleine Prinz", mit kniehohen Stiefeln, Lederjacke und Beduinenschleier, zog Premierminister Justin Trudeau zusammen mit seinen drei Kindern von Haus zu Haus, um Süßigkeiten einzusammeln. Keine Gruselmaske für Kanadas Regierungschef - er ist der gutaussehende Held und Retter.

Dank seiner Ausstrahlung und seiner Aufrufe zu Toleranz und Mitgefühl hat es der selbsterklärte Feminist zur Lichtgestalt gebracht. Trudeaus entspanntes Selbstbewusstsein weckt Begeisterung in aller Welt. Und auch zu Hause in Kanada ist der jugendlich wirkende Regierungschef nach einem Jahr im neuen Amt immer noch erstaunlich beliebt. Nach der jüngsten Umfrage stehen zwei Drittel seiner Landsleute hinter ihm. Trudeaus Liberale Partei ist sogar noch populärer als am 4. November 2015, dem Tag der Vereidigung des neuen kanadischen Kabinetts.

Seine politischen Gegenspieler hatten ihm damals kurze Flitterwochen vorausgesagt: Die harte Realität werde den ehemaligen Lehrer, Türsteher und Snowboard-Trainer rasch einholen, der außer einem berühmten Namen - Vater Pierre war einst elf Jahre lang Kanadas Premier - keine Ahnung von Politik habe. Bislang können ihm die Kritiker allerdings keinen schwerwiegenden Fehltritt nachweisen.

Hinter den zahlreichen effektheischenden Bildern - Trudeau samt Ehefrau in der Modezeitschrift Vogue, Trudeau im rosa Hemd bei der Schwulenparade in Toronto oder mit bloßem Oberkörper am Strand in Tofino - treten seine politischen Bemühungen zwar etwas in den Hintergrund. Doch der Liberale hat wichtige Wahlversprechen bereits eingelöst. So erhöhte er die Kinderzulagen, senkte das künftige Rentenalter wieder von 67 auf 65 Jahre, brachte gut 33 000 syrische Flüchtlinge ins Land und empfing die ersten Familien persönlich am Flughafen. Trudeau senkte die Steuern für mittlere Verdiener und erhöhte sie für die Reichen. Er verbesserte die Beziehungen zu den USA schlagartig, zog Kanadas Bomber aus Syrien und dem Irak ab. Die Hälfte seiner Ministerposten besetzte er mit Frauen - "weil es 2015 ist". Und am vergangenen Wochenende unterzeichnete er, nach langem Tauziehen, den Freihandelsvertrag mit der Europäischen Union in Brüssel. Der 44-Jährige habe sich "als robuster erwiesen, als man erwartet hätte", urteilte die Zeitung "The Globe and Mail", die seine Wahl nicht unterstützt hatte.

Trudeau ist offen, zugänglich und glaubwürdig geblieben. Aber er hat auch große Erwartungen geweckt, etwa bei den Ureinwohnern des Landes, die sich bessere Lebensbedingungen wünschen. Bei Umweltschützern, die gegen den Bau von Ölpipelines sind. Bei jungen verschuldeten Kanadiern und bei den Bürgern aus der Mittelschicht, die auf einen Wirtschaftsaufschwung hoffen. "Lasst uns fortfahren mit Hoffnung und harter Arbeit", schrieb Trudeau auf Facebook . Genau das wird er dringend brauchen.

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