Karlsruhe Urteilt über Hartz-IV-Sanktionen Wenn Jobcenter mit Existenznot drohen

Frankfurt · Verletzten Sanktionen bei Hartz IV die im Grundgesetz geschützte Menschenwürde? Ob die Jobcenter das zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum bei Hartz-IV-Beziehern wegen Pflichtverstößen mit pauschalen Sanktionen weiter minimieren dürfen, entscheidet am morgigen Dienstag das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe (AZ: 1 BvL 7/16). Sozialverbände kritisieren seit Jahren die Strafen.

Von dem erwarteten Grundsatzurteil sind nach Zahlen der Bundesagentur für Arbeit 5,4 Millionen Menschen im Hartz-IV-Bezug betroffen, darunter rund 1,9 Millionen Personen unter 18 Jahren. Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen die Jobcenter Arbeitslose „fördern und fordern“ und sie möglichst schnell wieder in Lohn und Brot bringen. Doch mitunter kommen die Betroffenen den Vorgaben der Behörde nicht nach: Sie fehlen unentschuldigt bei einem Jobcenter-Termin, sie schreiben zu wenig Bewerbungen oder sie brechen eine Weiterbildungsmaßnahme ohne ausreichende Begründung ab. In diesen Fällen kürzt die Behörde für drei Monate das Arbeitslosengeld II (monatlich 424 Euro für einen Alleinstehenden) um zehn oder 30 Prozent. Bei wiederholten Pflichtverstößen kann die Leistung um 60 Prozent oder sogar ganz gestrichen werden.

Für unter 25-Jährige sind die Sanktionen noch schärfer. Bei ihnen wird bereits beim ersten Pflichtverstoß die Regelleistung vollständig gekürzt, bei wiederholten Pflichtverstößen werden auch die Unterkunftskosten nicht mehr übernommen.

Im Jahr 2018 wurden laut Bundesagentur für Arbeit insgesamt 441 000 Hartz-IV-Bezieher mindestens einmal bestraft. In drei Viertel aller Fälle wurden Betroffene sanktioniert, weil sie unentschuldigt Meldetermine verpasst haben.

Bei einer Hartz-IV-Kürzung von 60 oder mehr Prozent werde nicht mehr das zu gewährende menschenwürdige Existenzminimum gesichert, urteilte das Sozialgericht Gotha bereits im Jahr 2015 (AZ: S 15 AS 5157/14). Die Sozialrichter hielten das Sanktionssystem für verfassungswidrig und legten den Rechtsstreit dem Bundesverfassungsgericht zur Prüfung vor.

In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar dieses Jahres in Karlsruhe sagte der Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts, Stephan Harbarth, dass die Zulässigkeit der Sanktionen insgesamt auf dem Prüfstand stehe. Es gehe darum, ob die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele geeignet und zumutbar für die Betroffenen seien, und nicht, ob das Sanktionssystem politisch sinnvoll sei.

Sozialminister Hubertus Heil (SPD) verteidigte vor Gericht das Sanktionssystem. Der Sozialstaat brauche Mittel, die Mitwirkung der Leistungsbezieher zu fordern. „Zur Menschenwürde gehört auch, dass Menschen sich anstrengen. Sonst wäre das ein bedingungsloses Grundeinkommen.“ Das wolle er nicht.

Susanne Böhme, Anwältin des vom Jobcenter bestraften Klägers, argumentierte, dass starre Sanktionen für drei Monate keine Verhaltensänderung beim Leistungsbezieher bewirkten. „Sanktionen treffen in der Praxis häufig Menschen, die sich nicht ausdrücken können, und nicht diejenigen, die sich drücken“, mahnte Friederike Mussgnug von der Diakonie. Überforderung, Krankheit, Depression, familiäre Konflikte oder Verständnisprobleme seien oft die eigentlichen Ursachen für sogenannte Pflichtverstöße.

Die Front der Sanktionsbefürworter scheint zu bröckeln. So hatte im April 2019 der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, Detlef Scheele, Änderungen zumindest bei den schärferen Sanktionen gegen Jugendliche verlangt. Mit Blick auf eine mögliche Streichung der Unterkunftskosten durch das Jobcenter sagte Scheele: „Drohende Wohnungslosigkeit hilft uns nicht weiter. Wir verlieren die jungen Menschen dann aus den Augen und können uns nicht mehr kümmern.“

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort