Juncker setzt ein Zeichen

Jean-Claude Juncker hat Europa seine Würde zurückgegeben. Nach Monaten des Streits, nach unfassbaren Bildern tausender Kriegsopfer , die durch die EU irrten, nach dem viel zu langen Schweigen der Unionsführung war der gestrige Auftritt des Kommissionspräsidenten ein Zeichen: Diese Gemeinschaft steht zu ihrem Wort und zu ihren Werten.Juncker hat recht: Das ist nicht die Stunde für Rhetorik oder Lyrik, sondern für Taten.

Genau das bleibt das Problem: Der Chef der EU-Kommission kann gute Ideen haben und einen flammenden Appell für die Aufnahme von Flüchtlingen halten - es sind leere Worte, wenn die Staats- und Regierungschefs nicht mitziehen. Und danach sieht es - zumindest bisher - aus. Was sich die Lenker etwa in Ungarn oder der Slowakei erlauben, widerspricht jedem Grundverständnis von Humanität und Menschenrecht. Es ist ein offener Verrat an der eigenen und der europäischen Geschichte.

Alles, was Juncker vor den Abgeordneten der 28 Mitgliedstaaten sagte, wird sich daran messen lassen müssen, ob er die Chefs jener Länder überzeugen konnte, die sich bislang querstellen. Dabei ging Juncker einen eigenen Weg: Er bekannte sich zu den freiwilligen Helfern, den Münchner Studenten und den Dortmunder Bürgern, den Kölner Spendern und den Unterstützern in Berlin. "Sie sind Europa", lobte Juncker und machte zugleich klar, dass er ein Votum der Menschen erwartet, die Einfluss auf ihre eigenen Regierungen nehmen können: Indem sie zeigen, dass nicht Abgrenzung, sondern Öffnung das Credo dieser Union ist.

Europa wird sich verändern. Aus Flüchtlingen werden Gäste und schließlich Mitbürger werden, die Demokratie als Geschenk und politische Mitverantwortung als hohes Gut schätzen. Sie werden auf dem Arbeitsmarkt nicht nur Lücken füllen, sondern helfen, künftig mit den Regionen, in denen sie geboren wurden, anders zusammenzuarbeiten. Die Länder, in denen sie wirklich ankommen, setzen ein Zeichen dafür, dass man Menschlichkeit nicht einfach nur denen überlässt, die darüber reden und Papiere verfassen, sondern dass es sie wirklich gibt.

Die Führer der EU-Staaten sollten den Juncker-Appell ernst nehmen - schon im eigenen Interesse, da Solidarität viele Gesichter hat. Wer angesichts der Flüchtlingswelle von diesem Gemeinsinn nichts wissen will, aber bei anderen Schwierigkeiten nach Beistand ruft, hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Wenn diese 28 jetzt nicht zusammenstehen, werden sie Solidarität bald vielleicht vergeblich suchen. Das sollten unter anderem jene wissen, die aus Angst vor einem neuen russischen Imperialismus ständig schutzsuchend nach Brüssel schauen. Solidarität kann man nicht teilen. Europa sollte Juncker folgen.

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