Juncker muss warten

Europa steht an einem Scheideweg. Und dabei geht es nicht etwa um die Person Jean-Claude Juncker oder um die Frage, welche der europäischen Institutionen sich am Ende mit welcher Personalie durchsetzt.

Im Mittelpunkt muss die Diskussion darüber stehen, ob die EU sich tatsächlich zu einer politischen Einheit mit zentraler "Regierung" entwickeln will - oder ob sie doch lieber ein Zusammenschluss unabhängiger Staaten bleibt. Die beiden Kommissionen unter José Manuel Barroso waren da keine Hilfe: Sie machten aus der sinnvollen Regulierung in vielen Fällen eine Gängelung der nationalen Regierungen, die niemand wirklich wollte.

Die EU mag gut durch die Krise gekommen sein, aber sie hat ganz elementare Aufgaben nicht gelöst. Die Arbeitslosigkeit von 27 Millionen Menschen ist ein Skandal. Die ungeklärte Energie-Sicherheit bleibt ein hohes Zukunftsrisiko. Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen hinter verschlossenen Türen sind ein Ärgernis. Und was ist mit der zentralen Frage, ob die Mitgliedstaaten die gerade erst beschlossenen Sparvorgaben wieder lockern dürfen? Wenn man schon mit Blick auf den Spitzenkandidaten von einem Versprechen gegenüber den Wählern redet, dann gilt das wohl umso mehr für die Zusage, sich gegen künftige Krisen zu wappnen und sichere Arbeitsplätze zu schaffen.

Natürlich hätte man nicht nur dem siegreichen konservativen Spitzenkandidaten, sondern auch der EU selbst eine zügige Klärung der Barroso-Nachfolge gewünscht. Aber das wäre die falsche Antwort auf die niedrige Wahlbeteiligung wie auch auf das Erstarken der EU-Gegner. Denn beides zielt gegen die nationalen Regierungen der Mitgliedstaaten. Camerons Schimpfen auf die EU, Hollandes Kritik an der Union, Merkels Appelle in Richtung Brüssel - all das kann eine schlichte Wahrheit nicht übertönen: Es ist eben diese Runde der Staats- und Regierungschefs, die Antworten nicht nur einfordern darf, sondern sie auch zu geben hat. Und zwar jetzt. Noch ehe man darüber entscheidet, wer diese Antwort als Kommissionspräsident für den europäischen Alltag umsetzen soll.

Dabei gibt es viele gute Gründe, die EU stärker auf jene Bereiche auszurichten, bei denen die Mitgliedstaaten tatsächlich alleine nichts ausrichten können: Wirtschaft, Währung, Binnenmarkt, Außenpolitik, Energiesicherheit, Klima- und Umweltschutz. Die Lösungen kann man allerdings anders gestalten als per Diktat aus Brüssel. Der EU-Gipfel hat eine Debatte über Perspektiven eröffnet, von der man sich wünschen würde, dass sie tief, gründlich und weitreichend geführt wird. Und dass man die frisch gewählten Volksvertreter der 503 Millionen Bürger dabei einbezieht. Sogar das Parlament sollte wissen, dass man einen guten Kandidaten für die Spitzenämter erst danach suchen und finden kann.

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