Exzentriker in der britischen Politik Wie Briten mit Schrulligkeit an die Macht gelangen

London/Berlin · Wie müsste man sich den neuen britischen Premierminister Boris Johnson oder den Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg übertragen auf deutsche Verhältnisse vorstellen? Johnson wäre vielleicht noch am ehesten als Mischung aus dem blonden Komiker Guido Cantz („Verstehen Sie Spaß?

 Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg gelten als Exzentritker. Kein Nachteil bei den Briten.

Boris Johnson und Jacob Rees-Mogg gelten als Exzentritker. Kein Nachteil bei den Briten.

Foto: dpa/Dominic Lipinski

“) und dem keine Kontroverse scheuenden Kolumnisten Jan Fleischhauer denkbar. Und der hochgewachsene, für sein versnobtes Upper-Class-Geschnösel bekannte Rees-Mogg? Er erinnert in Habitus und Kleidung entfernt an Sky du Mont in Bully Herbigs Filmkomödie „Schuh des Manitu“.

Gewiss, die Vergleiche hinken, aber sie machen deutlich: Exzentriker wie Johnson und Rees-Mogg sprengen den Rahmen des im politischen Berlin Vorstellbaren. Wohingegen man es in Großbritannien offenbar nicht trotz, sondern gerade dank mancher Schrulle bis ganz nach oben schaffen kann. Warum ist das so?

Karina Urbach, Historikerin an der US-Eliteuni Princeton, fragt zurück: „Warum erwarten wir in Deutschland, dass Politiker anderer Nationen sich genauso wie deutsche Politiker benehmen? Das zeigt doch eine gewisse Provinzialität unsererseits. Churchill war auch ein berühmter Exzentriker.“ Er bellte beim Nach-Hause-Kommen „Wau-wau“, was seine Frau Clementine mit  „Miau, miau“ beantwortete. „In der britischen Gesellschaft gibt es eine viel größere Toleranz für das Exzentrische“, bestätigt Andrew James Johnston, Professor für englische Literatur an der Freien Universität Berlin. „Da gab es den Lord, der beim Abendessen immer eine Blaskapelle um seinen Tisch marschieren ließ, oder den britischen Militärkommandanten in Berlin, der seinen Hund an der Tafel mit Platz nehmen ließ.“

Exzentrizität gelte auf der Insel als eine Form von Charakterstärke. Jacob Rees-Mogg lebe „in vielerlei Hinsicht in einer anderen Epoche, deren Werte er sich zu eigen gemacht zu haben glaubt“. In dieser Fantasiewelt bewege er sich aber so überzeugend, dass er viele Menschen fasziniere.

Diese Fähigkeit zur Selbstinszenierung werde der englischen Oberschicht schon in Kindheit und Jugend antrainiert, sagt Johnston. „Sowohl in Eton als auch in Oxford kommt es ganz massiv darauf an, ein Sonderbewusstsein zu kultivieren.“  Spitzenpolitiker und Spitzenkomiker haben oft die gleiche Ausbildung genossen. „Institutionen wie die Universität Cambridge sind auch eine Pflanzstätte der englischen Komiker- und Schauspieleravantgarde – man denke an Monty Python.“ Das heißt für Johnston: „Es ist eine sich durch die ganze Gesellschaft ziehende Kultur des Extravagant-Schauspielerischen, des Inszenatorischen.“ Selbst die oft als graue Maus beschriebene bisherige Premierministerin Theresa May habe sich mit ihren ausgefallenen Schuhen einen Hauch von Exzentrizität gegeben.

Begründet wurde die Vorliebe für aparte Überspanntheiten einst vom englischen Hochadel. Als Miterfinder des „Spleens“ – der blaublütigen Marotte – gilt Baron Rokeby (1712-1800), der während eines Kuraufenthalts in Aachen beschloss, nunmehr als Amphibie durchs Leben zu gehen. Von Stund an verbrachte er den Großteil des Tages im Wasser. Sein Zeitgenosse Johann Wolfgang von Goethe machte die Beobachtung, dass den Engländer eine gewisse „Eigenwüchsigkeit“ auszeichne.

ARCHIV - 27.03.2019, Großbritannien, London: Jacob Rees-Mogg, Tory-Abgeordneter, steht vor dem Palace of Westminster. (zu dpa «Mit Schrulligkeit zur Macht - Warum die Briten so exzentrisch sind») Foto: Dominic Lipinski/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

ARCHIV - 27.03.2019, Großbritannien, London: Jacob Rees-Mogg, Tory-Abgeordneter, steht vor dem Palace of Westminster. (zu dpa «Mit Schrulligkeit zur Macht - Warum die Briten so exzentrisch sind») Foto: Dominic Lipinski/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++

Foto: dpa/Dominic Lipinski

Muss eine sachorientierte deutsche Politikerin wie Bundeskanzlerin Angela Merkel auf die Briten da nicht geradezu abschreckend fade wirken? „Nein“, meint Johnston.  Merkel genieße in Großbritannien extrem hohes Ansehen, gerade weil sie Gelassenheit als Gegenmodell zur Inszenierung pflege. Denn eines darf man nicht vergessen: Auch in ihrer Heimat sind Johnson und Rees-Mogg hoch umstritten.

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