Johnsons Brexit-Trick Die großen Schwächen der britischen Demokratie

Düsseldorf · Es ist noch gar nicht so lange her, da galt Großbritannien vielen Europäern als ein demokratischer Sehnsuchtsort. Nach dem Krieg wurde die Insel mit ihrer jahrhundertealten parlamentarischen Tradition, die ihren Bürgern Freiheit, Identität und einen gesunden Patriotismus schenkte, besonders auch für Deutschland zum Vorbild.

 Der britische Premier Boris Johnson nutzt die Frustration auf der Insel für seine Zwecke.

Der britische Premier Boris Johnson nutzt die Frustration auf der Insel für seine Zwecke.

Foto: dpa/Kay Nietfeld

Politischer Extremismus und Chauvinismus schien den Briten wesensfremd, Pragmatismus ihre oberste Leitschnur.

Wer heute auf das viel gepriesene britische Regierungssystem blickt, sieht Chaos, Lähmung, Demagogie. Die nach Ansicht einiger Historiker schlimmste Verfassungskrise des Königreichs seit der blutigen Cromwell-Diktatur im 17. Jahrhundert ist die direkte Folge eines politischen Akts, den der damalige konservative Premierminister David Cameron zu verantworten hat. Um den lästigen parteiinternen Konflikt zur Europafrage endlich beizulegen, setzte er ein Referendum zur EU-Mitgliedschaft an. Am 23. Juni 2016 entschied sich dann eine knappe Mehrheit von rund 52 Prozent für einen EU-Austritt.

Doch auch die Abgeordneten des Unterhauses sind gewählt. Und sie sind, wie auch ihre Kollegen im Bundestag, nicht verpflichtet zu tun, was ein angeblicher Volkswille von ihnen verlangt. Aber der neue Premierminister Boris Johnson tut einfach so, als könnte er sich aussuchen, welche der beiden demokratischen Entscheidungen er respektiert.

Der Trick, das Parlament in eine Zwangspause zu schicken, um den Abgeordneten das Heft des Handels beim Brexit aus der Hand zu nehmen, tarnt sich als verfassungskonforme Normalität. In Wirklichkeit handelt es sich um einen Missbrauch der monarchisch geprägten Verfassung des Landes. Es ist müßig, darüber zu spekulieren, ob die Königin sich Johnsons Wunsch auch hätte widersetzen können. Faktisch sind die amtierenden Monarchen nur Handlanger der jeweils regierenden Premierminister.

Jetzt rächt sich das, was lange als besonderes Alleinstellungsmal Großbritanniens galt: der Verzicht auf eine kodifizierte Verfassung. Die Briten verlassen sich auf eine in Jahrhunderten gewachsene verfassungsrechtliche Struktur aus Gewohnheitsrecht, Gesetzen mit Verfassungsrang und dem sogenannten Common Law. Das Konstrukt erwies sich lange als außerordentlich anpassungsfähig und effektiv, aber der Brexit-Streit legt schonungslos seine demokratischen Defizite offen.

Die politischen Kontrollmechanismen, die die Briten einst einführten, dienten vor allem dazu, die Macht der Monarchen zu zügeln und jene des Parlaments zu stärken. In Wirklichkeit aber dominiert die Exekutive schon lange die britischen Institutionen, und dass ein Premierminister, dessen genaue Rolle nirgends genau definiert ist, sich zum Tyrannen entwickeln könnte, war einfach nicht vorgesehen. Gegen einen skrupellosen Populisten in der Downing Street 10 sind die britischen Institutionen denkbar schlecht gewappnet.

Dazu kommt: Die beiden großen Parteien sind ideologisch immer extremer geworden. Labour wird heute mit Jeremy Corbyn von einem skurrilen Altsozialisten geführt, während die Tories über die Jahre scharf nach rechts gerückt sind. Die einst dominierenden Blöcke sind von eigenen Mehrheiten inzwischen weit entfernt, aus dem alten Zwei-Parteien-System ist längst eines mit sieben Parteien geworden. Da das britische Wahlrecht aber dafür sorgt, dass diese neue politische Vielfalt sich nicht im Parlament abbilden kann, sehen Millionen Wähler kleinerer Parteien ihre Stimmen entwertet. So etwas schürt gefährliche Frustration, die Männer wie Boris Johnson für ihre Zwecke ausnutzen können.

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