In der Schweiz entscheidet wieder Volkes Wille

Basel · Rascher war im Berliner Koalitionspoker kaum eine Frage vom Tisch: Volksentscheide? War nur mal so eine Idee. Was Deutschen wie demokratische Science-Fiction vorkommen mag, ist für die Schweizer Selbstverständlichkeit: Nicht Politiker haben das letzte Wort, sondern stets das Volk.

Wenn ein Thema auch nur einigermaßen wichtig ist, gibt es dazu ein Referendum.

An diesem Sonntag stehen rund 5,2 Millionen Wahlberechtigte vor gleich drei Fragen: Darf die Regierung die Pkw-Maut erhöhen? Soll es Steuerabzüge für Familien geben, die ihre Kinder selbst betreuen? Und: Muss eine Gehaltsbremse für Spitzenmanager gesetzlich festgelegt werden?

Umstritten sind alle drei Themen. Besonders hoch aber schlugen die Wellen bei der "Initiative 1:12": Soll das höchste Einkommen in einem Unternehmen künftig maximal das Zwölffache des niedrigsten betragen dürfen? Für den Antrag, darüber das Volk entscheiden zu lassen, konnten die Jungsozialisten problemlos die Mindestzahl von 100 000 Unterschriften sammeln. Das heißt aber längst nicht, dass der Vorschlag von der Mehrheit angenommen wird. Schon gar nicht, nachdem die Wirtschaft mit einer Millionen-Kampagne den Teufel des sozialen Niedergangs an die Wand malte. Kein ausländisches Unternehmen werde im Falle der Annahme von "1:12" noch in die Schweiz ziehen wollen, hieß es beim Weltkonzern Nestlé mit Sitz am Genfer See. Dessen Chef Paul Bulcke streicht mit jährlich 12,6 Millionen Franken (10,2 Millionen Euro) das 238-fache des niedrigsten Lohns ein. Beim Pharma-Konzern Roche beträgt die Gehaltsschere gar 1:261, beim Uhrenhersteller Swatch immerhin noch 1:137.

Wut auf "Abzocker" ist auch in der Schweiz verbreitet. Dennoch deuten Umfragen auf eine Niederlage der "1:12"-Initiative hin. In Jahrzehnten direkter Demokratie haben die Eidgenossen gelernt, vor Referenden das Für und Wider abzuwägen - von Ausrutschern wie dem heftig kritisierten Bauverbot für Minarette im Jahr 2009 einmal abgesehen.

Spannend ist auch die Frage nach einer höheren Pkw-Maut. Als die Schweizer Bundesregierung im Frühjahr die Erhöhung der Jahresgebühr für die Autobahnvignette von 40 auf 100 Franken (rund 80 Euro) ankündigte, brach ein Sturm der Entrüstung los. Doch in jüngsten Umfragen erklärten sich etwa 50 Prozent damit einverstanden, die Maut für Ausbau und Modernisierung des Fernstraßennetzes zu erhöhen. 46 Prozent lehnen dies ab, vier Prozent sind unschlüssig.

Knapp sieht es auch für die "Familieninitiative" aus. Wer seine Kinder selbst betreut, soll demnach ebenso Steuerabzüge geltend machen können, wie jene, die den Nachwuchs in Kindergärten unterbringen. Das erinnert an das Betreuungsgeld in Deutschland - nur dass die Deutschen darüber nicht an der Urne entscheiden durften.

Dass Deutsche sich anscheinend damit zufriedengeben, alle paar Jahre Volksvertreter wählen zu dürfen, ohne zwischendurch stets per Referendum mitentscheiden zu können, wundert so manchen in der Schweiz. "Bei uns regiert nicht die Regierung", wird Ausländern selbstbewusst erklärt: "Bei uns regiert das Volk." Im Gegenzug genießen die sieben Minister in Bern - scherzhaft sieben Zwerge genannt - bei den Bürgern das größte Vertrauen im Vergleich aller westlichen Regierungen: Laut einer jetzt veröffentlichten OECD-Studie erklärten 77 Prozent, sie vertrauten ihrer Regierung. In Deutschland waren es 42 Prozent.

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