Hysterie um Grass

Meinung · Ein klarer Fall von "Shitstorm", wie die Empörungswelle im Zeitalter des Web 2.0 heißt. Da hat ein zorniger alter Mann ein "Gedicht" verfasst, in dem er sich über Israel aufregt, das den Weltfrieden aufs Spiel setze. Und weil er dabei Grundsätze der "political correctness" missachtet, fegt ein Proteststurm über ihn hinweg, der seinesgleichen sucht

Ein klarer Fall von "Shitstorm", wie die Empörungswelle im Zeitalter des Web 2.0 heißt. Da hat ein zorniger alter Mann ein "Gedicht" verfasst, in dem er sich über Israel aufregt, das den Weltfrieden aufs Spiel setze. Und weil er dabei Grundsätze der "political correctness" missachtet, fegt ein Proteststurm über ihn hinweg, der seinesgleichen sucht.Der Bürger registriert es mit Erstaunen. Und so mancher stellt die richtige Frage: "Hallo, geht's auch eine Nummer kleiner?" Tatsächlich wirkt die Reaktion auf die Grass'sche Provokation übertrieben. Muss man jemanden, der in 69 ungereimten Zeilen Richtiges mit Falschem vermischt, der ein Problem aus seiner persönlichen (und womöglich subjektiv verzerrten) Perspektive betrachtet, in Grund und Boden verdammen? Gehört Günter Grass schon deshalb an den Pranger, weil er das "gute" Israel auf eine moralische Stufe mit dem "bösen" Iran gestellt hat?

Die Hysterie um die Grass-Zeilen hat Dimensionen angenommen, die selber problematisch werden, weil sie vom eigentlichen Sachverhalt ablenken. Anstatt die These von der angeblichen Gefährlichkeit Israels für den Weltfrieden mit kühler Akkuratesse und argumentativ zu kontern, greifen die Kritiker (selbst) zur verbalen Keule: Grass sei ein "Antisemit", er habe ein "erbärmliches Gedicht" verfasst, für das man sich "schämen" müsse, es sei "absurd", was er verzapft habe, ja nachgerade "ekelhaft" - so urteilt die deutsche Intelligenz, während Israels Innenminister meint, er müsse Grass ein Einreiseverbot erteilen. Was ist das für eine Debattenkultur, wenn man sich dem gleichen Vorwurf aussetzt, den man kritisiert, nämlich: dem anderen nur bösartige Absichten zu unterstellen?

Der Streit um die Frage, ob die Besorgnis von Grass eine gewisse Berechtigung hat, ob er sich grob irrt oder gar die Fakten bewusst verdreht, wird deshalb so erbittert geführt, weil es um die Deutungshoheit geht. Jeder informierte Bürger kann sich aber selbst ein Urteil bilden. Auf jeden Fall ist das Drama in Nahost kein Regionalkonflikt, sondern ein unmittelbares und globales Ereignis, das uns alle betrifft. Deshalb hat jeder das Recht, sich einzumischen. Auch Günter Grass. Dem jüdischen Intellektuellen Moshe Zimmermann ist absolut zuzustimmen, wenn er sagt, dass es auf Grass "keine zionistische Antwort" geben dürfe. Und dass man den Vorwurf des Antisemitismus nicht missbrauchen dürfe, um Israel vor Kritik zu schützen.

Ja, Grass hat sich auf gefährliches Terrain begeben, vor allem hat er den Rechten in Israel und Europa in die Hände gespielt. Wie es aussieht, ist sein Warnschuss nach hinten losgegangen. Doch erst die Zukunft wird zeigen, wie absurd seine Befürchtungen tatsächlich waren.

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