Herzlich unwillkommen im Sehnsuchtsland

London · Großbritannien gilt Hunderttausenden als Sehnsuchtsland. Zwar dreht sich die aktuelle Debatte vor allem um jene, die Nacht für Nacht versuchen, durch den Eurotunnel auf die Insel zu gelangen. Doch das Gros der Einwanderer kommt aus der EU.

Und es werden immer mehr. In den zwölf Monaten ab März 2014 zogen fast 330 000 Migranten mehr ins Königreich als Menschen es verließen - ein neuer Spitzenwert. Premier David Cameron dürfte die neuen Zahlen der Statistikbehörde mit Sorge vernommen haben, denn sie setzen ihn unter Druck. Hatte er doch zu Beginn seiner ersten Amtszeit versprochen, die Netto-Zuwanderung "ohne Wenn und Aber" auf 100 000 Menschen pro Jahr zurückzufahren.

Daran wird er gemessen, und der Aufschrei ließ nicht lange auf sich warten. Der rechte Flügel von Camerons Konservativen und die rechtspopulistische Ukip fühlen sich nun bestärkt. Die schwelende Einwanderungsfrage ist Munition für die EU-Gegner. Wenig überraschend also, dass Migrations-Staatssekretär James Brokenshire die gestern vorgestellten Zahlen "höchst enttäuschend" nannte. Sie seien "ein weiterer Weckruf für die EU". Tatsächlich ist die Debatte um die Personenfreizügigkeit neu entfacht: 269 000 Menschen kamen vom Kontinent, 53 000 von ihnen sind Rumänen und Bulgaren. Um die Gemüter zu beruhigen, lässt Cameron die Briten bis spätestens 2017 in einem Referendum darüber abstimmen, ob sie Mitglied im europäischen Verbund bleiben möchten oder nicht. Davor will der Premier in Brüssel Reformen durchsetzen, zum Beispiel die Sozialleistungen für EU-Zuwanderer einschränken.

Doch es gibt auch profunde Kritik an der Politik der begrenzten Zuwanderung. Sie kommt vor allem aus der Wirtschaft. Cameron bestrafe damit Unternehmen, bemängelte gestern der Chef des renommierten Wissenschaftszentrums Institute of Directors, Simon Walker. Das Streben nach einem "bizarren und unerreichbaren Migrationsziel" sei nicht der Weg, um eine stabile Umgebung für britische Unternehmen zu schaffen, sagte er. Auch die zunehmend scharfe Rhetorik der Minister beim Thema Zuwanderung gefährde den Ruf einer "offenen, wettbewerbsfähigen Ökonomie".

Was gerade konservative Medien und Politiker leider gern außer Acht lassen: Die Wirtschaft des Königreichs wächst seit Jahren kräftig und hat sich vergleichsweise schnell von der Krise erholt - was auch den Migranten zu verdanken ist. Schatzkanzler George Osborne träumt laut davon, sein Land bis 2030 zur reichsten Volkswirtschaft des Westens zu machen. Ohne Zuwanderung wird das allerdings eine Schimäre bleiben.

Viel zu schnell wird auf der Insel mit dem Finger auf Migranten verwiesen, wenn es um das Streitthema Sozialmissbrauch geht. Das Suchen und Finden des immer gleichen Buhmanns vergiftet die Stimmung in der Bevölkerung. Dabei ergab jüngst eine Studie des University College London , dass Einwanderer aus dem europäischen Wirtschaftsraum im Schnitt 34 Prozent mehr Steuern zum System beitragen als sie an Sozialleistungen erhalten. Die Firmen betonen unaufhörlich, dass sie auf Migranten angewiesen sind. Wegen des mangelhaften Ausbildungssystems fehlen an allen Ecken Handwerker und Fachkräfte. Polnische Klempner, rumänische Pfleger, deutsche Ingenieure sind dann plötzlich willkommen. Doch solche Fakten gehen zunehmend im Lärm der Schreihälse unter.

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