Gute Zeiten, schlechte Zeiten

Wie in jedem Jahr haben die Gewerkschaften für den 1. Mai zu Kundgebungen aufgerufen. Doch die Zeiten, als die Proletarier nichts zu verlieren hatten als ihre Ketten, sind lange vorbei. Für die allermeisten ist der 1. Mai ein willkommener freier Tag ganz im Privaten.

Davon zeugen die rückläufigen Teilnehmerzahlen bei den Demonstrationen. Hinzu kommt, dass Deutschland schon länger mit ermutigenden konjunkturellen Daten glänzen kann. Die Arbeitslosenzahlen sinken, die Löhne steigen und der Binnenkonsum floriert. Gute wirtschaftliche Zeiten müssen allerdings nicht automatisch schlechte Zeiten für die Gewerkschaften sein. Jedenfalls dann nicht, wenn sich die Arbeitnehmervertreter den veränderten Herausforderungen stellen.

Die Arbeitswelt ist in einem tiefgreifenden Umbruch. Wo früher der klassische Industriearbeiter das Maß aller gewerkschaftlichen Dinge war, gewinnt der Dienstleistungssektor immer stärker an Bedeutung. Große Unternehmen entstehen kaum noch, wohl aber viel kleine, die den Gewerkschaften zweifellos das Geschäft erschweren. Zur Jahrtausendwende waren rund 75 Prozent aller Arbeitnehmer in Deutschland tariflich gebunden. Heute sind sind es nur noch 58 Prozent, im Osten sogar weniger als die Hälfte.

Andererseits belegen Untersuchungen, dass Beschäftigte in Betrieben mit einem Branchentarif 5,6 Prozent mehr verdienen als Beschäftigte, für die es keinen Tarifvertrag gibt. Schon das unterstreicht die Bedeutung der Tarifpartnerschaft und damit auch der Gewerkschaften im Land. Und die könnte sogar wieder wachsen. Zum einen, weil vielerorts zunehmend Arbeitskräfte gesucht anstatt entlassen werden, was die Verhandlungsposition von Gewerkschaften stärkt. Zum anderen, weil die Bundesregierung Schützenhilfe leistet: So ist der Mindestlohn praktisch auch ein politischer Ersatz, um mangelnde gewerkschaftliche Durchsetzungsfähigkeit auszugleichen.

Doch es geht nicht nur um bloße Lohnprozente. Die Tarifauseinandersetzung bei den Kitas eröffnet ganz neue Perspektiven. Denn hinter der Verdi-Forderung nach einer besseren Eingruppierung der rund 240 000 Erzieher(innen) steckt eine spannende Grundsatzfrage. Nämlich die nach der Wertschätzung von Arbeit mit Menschen. Gegenwärtig verdient eine Kindergärtnerin weniger als ein Paketzusteller, ein Industriemechaniker mehr als ein Altenpfleger. Kann das so bleiben in einer Gesellschaft, die sich demografisch spürbar verändern wird und deren praktisch einziger Rohstoff die Bildung ist?

Wohl kaum. Die Gewerkschaften könnten hier zum Vorreiter einer großen Debatte werden. "Tag der Arbeit" wird der 1. Mai genannt - die Arbeit wird den Gewerkschaften nicht ausgehen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort