Analyse Bosnien ist durch den Streit seiner drei Völker seit Jahren blockiert. Jetzt könnte es einen Neubeginn geben. Doch daran gibt es kein Interesse. Großer Wahltag in einem unregierbaren Land

Sarajevo · Bosnien-Herzegowina gilt durch den jahrzehntelangen Dauerstreit von muslimischen Bosniaken, orthodoxen Serben und katholischen Kroaten als gescheiterter Staat. Seit Jahren versuchen die EU und die USA mit einem Heer an Diplomaten und Experten sowie Milliarden an Finanzhilfen, das kleine Balkanland aus der Sackgasse zu führen.

Ohne Erfolg. Die führende Menschenrechtlerin in der Region, Sonja Biserko, analysiert: „Die drei politischen Eliten sind objektiv gar nicht an Reformen interessiert, die notwendig sind für einen EU- und Nato-Beitritt. Die drei Eliten arbeiten gemeinsam daran, dass der Status quo erhalten bleibt.“

Und diese augenblickliche Lage ist alles andere als zukunftsträchtig, demokratisch, reformorientiert oder gesellschaftlich akzeptiert. Das arme Land liegt nach dem Bürgerkrieg der drei Völker (1992-1995) mit über 100 000 Toten und mehr als zwei Millionen Flüchtlingen heute am Boden. Die eine Landeshälfte wird von den Serben kontrolliert, die zweite von Bosniaken und Kroaten. Beide Teile sind fast unbegrenzt selbstständig und arbeiten nach Kräften gegeneinander. Mehr noch. Die Serben streben nach Abspaltung und Anschluss an ihre „Mutterrepublik“ Serbien. Die Kroaten wollen für sich einen eigenen autonomen Landesteil durchsetzen, sodass das Land noch weiter zerfallen würde.

Wie kompliziert und dadurch weitgehend unregierbar Bosnien ist, klärt ein Blick darauf, was die Bürger an diesem Sonntag wählen sollen: Das weitgehend machtlose Bundesparlament, die Parlamente der zwei Landeshälften, die Parlamente der zehn ebenfalls sehr autonomen Kantone in der muslimisch-katholischen Landeshälfte. Dazu kommt noch das Staatspräsidium für den Gesamtstaat, das aus jeweils einem Vertreter der drei Völker bestehen muss. Die Spitzen von Serben und Kroaten im Land „planen den Zerfall Bosniens“, ist der sozialdemokratische Spitzenpolitiker Zeljko Komsic sicher.

Um trotz negativer Bilanz ihre jahrzehntelange Macht abzusichern, schreckt das politische Establishment der drei Nationen auch vor fragwürdigen, halbseidenen und sogar teils kriminellen Praktiken nicht zurück. So enthalten die Wahllisten viele Karteileichen. Bei 3,5 Millionen Einwohnern soll es knapp 3,4 Millionen Wahlberechtigte geben. Zudem haben die Behörden an 350 000 Bürger keine Personalausweise ausgegeben, die jedoch Voraussetzung für die Stimmabgabe sind. Rund 300 000 Menschen haben kein Recht, sich bei der Wahl als Kandidat aufstellen zu lassen, weil sie nicht entweder Bosniake, Serbe oder Kroate sind. Es handelt sich vor allem um Roma, obwohl diese einen bosnischen Pass haben.

Wie Medien berichten, haben die nationalen Parteien in den vielen Staatsbetrieben sowie in der Staats- und Kommunalverwaltung Systeme entwickelt, um die „richtige“ Stimmabgabe der Beschäftigten zu kontrollieren. Es gibt darüber hinaus viele Berichte, dass Parteien armen Menschen ihre Personalausweise abgekauft haben, um mit diesen stellvertretend abzustimmen. Auch haben Unternehmen Gewinnspiele aufgelegt, bei denen die Personalausweise kopiert oder gescannt werden müssen: Die Opposition behauptet, mit diesen Daten würden Stimmabgaben ebenfalls manipuliert. Von den 80 000 Briefwählern vor allem im Ausland haben viele nach eigenen Aussagen gar keine Wahlanträge gestellt. Auch hier liegt Manipulation nahe.

Die frustrierten Bürger reagieren schon seit Jahren auf die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Misere: Nur die Hälfte der Wahlberechtigten gibt auch ihre Stimme ab. Zigtausende verlassen jährlich ihre Heimat – vor allem in Richtung Österreich und Deutschland.

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