Großbritannien bleibt ein tief gespaltenes Land

London · Beim Gang durch den Treppenflur von Downing Street Nummer Zehn wirkt in diesen Dezembertagen auf den ersten Blick alles wie immer. Die Wände strahlen in einem satten Gelb und an ihnen hängen schwarz-weiße Porträts aller vergangenen Premierminister . Aber: David Cameron fehlt. Dabei gehört auch er seit Mitte des Jahres zum Klub der Ehemaligen.

Cameron hat gezockt, gekämpft, verloren. "Wir sind raus" - es war die Verkündung des Ergebnisses des 24. Juni, das das Königreich veränderte. Brexit! 51,9 Prozent stimmten für den Austritt aus der Europäischen Union, 48,1 Prozent für den Status Quo. Trotz der besseren wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Argumente und obwohl die Pro-EU-Kampagne mehr Geld, eine bessere Infrastruktur und deutlich mehr Prominente, Unternehmer und Politiker vorweisen konnte. Es half nichts in einem Wahlkampf, der von Beleidigungen, persönlichen Angriffen und garstigen, teils bitterbösen Tönen bestimmt war.

David Cameron kündigte sofort seinen Rücktritt an. Es folgten Wochen des Tumults. Westminster befand sich in einer Schockstarre, sowohl die Konservativen als auch die oppositionelle Labour-Partei zerfleischten sich in Führungsstreits. Zahlreiche Rücktritte folgten. Mitte Juli zog die Konservative Theresa May als neue Premierministerin in die Downing Street ein und tauschte fast das gesamte Kabinett aus.

Doch bis heute zeigt sich das Königreich als ein tief gespaltenes Land - politisch, ökonomisch, gesellschaftlich, geografisch. Nordirland und Schottland haben mehrheitlich für den EU-Verbleib gestimmt, weshalb die schottische Regierung wieder mit der Unabhängigkeit liebäugelt. Zudem häufen sich fremdenfeindliche Angriffe auf der Insel.

Wirtschaftlich blieben der große Schock und Banken-Exodus zunächst aus. Dennoch stürzte das Pfund auf historische Tiefstwerte ab, Preise stiegen und in der Wirtschaftswelt herrscht große Unsicherheit. May versucht mit Parolen zu beruhigen: "Brexit heißt Brexit und wir machen einen Erfolg daraus", versichert sie allen EU-Gegnern. Ende März will die Regierung das Austrittsabkommen nach Artikel 50 des EU-Vertrags von Lissabon einleiten. Mit konkreten Aussagen, wie die Scheidung von Brüssel in der Praxis aussehen könnte, hält sich May aber zurück. Man wolle die Karten nicht auf den Tisch legen, um die eigene Verhandlungsposition nicht zu schwächen. Kritiker meinen dagegen, der Regierung fehle schlicht der Plan. Tatsächlich steckt die Premierministerin in einem Dilemma. Bei den Tories gehen die Vorstellungen über den Ausstieg aus der Gemeinschaft weit auseinander.

Es gibt sogar offene Differenzen zwischen den "drei Brexiteers", allesamt Hardliner: Außenminister Boris Johnson , Handelsminister Liam Fox und Brexit-Minister David Davis . Für viele Unternehmen, Banken und Dienstleister ist der freie Zugang zum EU-Binnenmarkt entscheidend. Etliche Menschen aber stimmten für den Austritt, um die Einwanderung aus EU-Mitgliedstaaten künftig kontrollieren zu können. Beides zusammen geht nicht, heißt es aus Brüssel. "Rosinenpicken" sei keine Option.

Das Jahr 2016 hat das Königreich auf Jahre hinaus verändert. Und dieser Umstand wird sich demnächst nicht nur in Form von Camerons Porträt an der Wand von Downing Street Nummer Zehn zeigen.

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