Gesunder Mann am Bosporus

Meinung · Mehr als fünf Jahre nach dem Beginn der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen wissen die Europäer immer noch nicht so recht, was sie mit der Türkei anfangen sollen. Derweil verändert eine wirtschaftlich und politisch erstarkende Türkei die regionalpolitischen Realitäten

Mehr als fünf Jahre nach dem Beginn der türkischen EU-Beitrittsverhandlungen wissen die Europäer immer noch nicht so recht, was sie mit der Türkei anfangen sollen. Derweil verändert eine wirtschaftlich und politisch erstarkende Türkei die regionalpolitischen Realitäten. Ob Europa es nun will oder nicht: Die Türkei hat sich einen eigenen und zunehmend wichtigen Platz im Konzert der internationalen Mächte erobert. Keine Rede ist mehr vom "kranken Mann am Bosporus".Die Serie von Volksaufständen in der arabischen Welt ist ein Beispiel dafür. Als die Regime in Tunesien und Ägypten kollabierten, wurde die Türkei als Modell einer Verbindung von westlicher Demokratie und muslimischer Bevölkerung genannt. Im Fall Libyen ist die Türkei das einzige Nato-Land, das sowohl im Gaddafi-Lager als auch in der Opposition genügend Glaubwürdigkeit besitzt, um zwischen beiden Seiten vermitteln zu können.

Wie gefragt die Türkei inzwischen auf der regionalpolitischen Bühne ist, zeigt ein Blick auf den Terminkalender von Außenminister Ahmet Davutoglu in der vergangenen Woche. Der Politikprofessor konferierte mit Nato-Generalsekretär Rasmussen, empfing einen Gesandten Gaddafis und kam mit dem libanesischen Ministerpräsidenten Hariri zusammen. Anschließend besuchte Davutoglu mehrere Golf-Staaten, verhandelte mit einem Vertreter der libyschen Opposition und sprach in Damaskus mit dem syrischen Staatsschef Assad. Und er versuchte, zwischen den Palästinenser-Gruppen zu vermitteln.

In einer Zeit, in der Ankara fast täglich neue politische Fühler ausstreckt - in wenigen Tagen fallen die Visumsschranken zwischen der Türkei und Russland - und in der ein kräftiger Wirtschaftsaufschwung den Türken nie dagewesenen Wohlstand beschert, verharren die Europäer in einem Türkei-Bild, das auf der Angst vor einem Ansturm armer, ungehobelter und muslimischer Anatolier beruht. Damit vertun die Europäer eine große Chance - wie das Beispiel Libyen zeigt, das die Türken besser kennen als alle anderen Nato-Länder. Umgekehrt hat Druck aus Europa für die demokratische Weiterentwicklung der Türkei auch heute noch eine Katalysator-Funktion.

Ob das so bleibt? In dem Maße, wie die EU-Hoffnungen schwinden, finden die Türken Gefallen an ihrer neuen Rolle als Vorbild und Ordnungsmacht in der Region. Die Europäer könnten eines Tages einer Türkei gegenüberstehen, die von ihrer Wirtschaft, ihren demokratischen Standards und ihrem Gewicht ein echter Zugewinn für die EU wäre. Die aber dann keine Lust mehr hat auf Europa.

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