Gegen die Rosinenpicker

Ungarn gilt innerhalb der EU schon lange Zeit als demokratischer Risikofaktor. Das wird sich nach dieser denkwürdigen Wahl vom Sonntag nicht bessern.

Der alte und neue Premierminister Viktor Orban bleibt der stärkste Mann in Budapest, die Wähler wollten es so. Gemeinsam mit seinen rechtskonservativen Fidesz-Freunden kann er seine Herrschaft fortsetzen.

Dabei hatte Brüssel mehrfach versucht, ihn zu stoppen. Da waren die umstrittenen Mediengesetze, die Fernsehen, Rundfunk und Presse unter Aufsicht stellen. Oder die Pensionierung einer missliebigen Richter-Generation. Und schließlich der Eingriff in die Unabhängigkeit der Nationalbank. Doch Orban kniff nicht, reiste nach Straßburg und Brüssel, versprach Buße, änderte dann allerdings bestenfalls ein paar Marginalien, was ihm zuhause den Ruf des eisernen Kanzlers gegen die Vorherrschaft der EU einbrachte.

So etwas gefiel den Ungarn, die in der Geschichte oft genug ihren Nationalstolz eingebüßt hatten. Aus europäischer Sicht aber ist dieser vor Selbstbewusstsein strotzende Ministerpräsident nicht das größte Problem, sondern vielmehr der Nationalismus, der ihn trägt. Längst befürchtet man in Brüssel ein zunehmendes Verdunsten europäischer Werte wie Solidarität und Zusammenhalt. Gleiches verzeichnen Beobachter in der Slowakei, in Tschechien oder Rumänien. Von einem "Flächenbrand" ist die Rede. Die nationalistischen Töne der türkischen Regierung passen ebenfalls ins Bild.

Dass dies alles zu einem Zeitpunkt geschieht, in dem auch Orban eigentlich einräumen müsste, dass er sich verkalkuliert hat, konnte die Wähler kaum beeindrucken. Vielleicht war der Abstand zur Ukraine-Krise zu kurz, um Wirkung zu zeigen. Allerdings wird Orban seinen Kurs ändern müssen. Ungarns extreme Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zwingt die neue Regierung zu Öffnungen genau zu den Partnern, von denen man sich ansonsten gerne abgrenzt. Ohne Europa wird das Land der Magyaren auf Dauer nicht überleben können. Man braucht die Gemeinschaft, von der man nie viel hielt, dringender denn je.

Für die EU aber geht es um mehr als Gas und Öl. Die jungen Mitglieder im Osten offenbaren immer wieder demokratische Defizite, die knapp an einer Vertragsverletzung vorbeischrammen. Wie sie die Europäisierung, die sie bisher so weit wie möglich behindert haben, den eigenen Wählern verkaufen wollen, erscheint derzeit noch unklar. Es sei denn, sie tun genau das, was ihnen von Brüssel immer wieder vorgeworfen wird: Man pickt sich die Rosinen aus. Das kann und darf sich Europa nicht gefallen lassen. Es könnte nämlich Schule machen. Nicht nur London wird die Entwicklung genau beobachten.

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