Frankreichs "Blaue" als Spiegel der Gesellschaft

Paris. Zumindest ein Trost bleibt den "Blauen": Sie sind, irgendwie, ins Viertelfinale der Fußball-EM gestolpert. Von Stolz ist nach dem 0:2 gegen die Schweden, die bereits ausgeschieden und trotzdem viel motivierter waren, aber keine Rede. Und der Optimismus für die Begegnung des französischen Teams mit Weltmeister Spanien am Samstag hält sich in Grenzen

Paris. Zumindest ein Trost bleibt den "Blauen": Sie sind, irgendwie, ins Viertelfinale der Fußball-EM gestolpert. Von Stolz ist nach dem 0:2 gegen die Schweden, die bereits ausgeschieden und trotzdem viel motivierter waren, aber keine Rede. Und der Optimismus für die Begegnung des französischen Teams mit Weltmeister Spanien am Samstag hält sich in Grenzen. "Blass und traurig" habe die Nationalelf gewirkt, urteilen die Sport-Kommentatoren, selbst blass und traurig. Nach 23 Spielen in Folge ohne Niederlage war diese krachend - und die Enttäuschung umso größer.Denn die Mannschaft hat etwas gutzumachen, ihr Ruf ist international lädiert nach einer blamablen Vorstellung bei der WM 2010 in Südafrika. Nach dem Rauswurf von Stürmer Nicolas Anelka, der Trainer Raymond Domenech wüst beschimpft hatte, boykottierten seine Spielerkollegen damals das Training - ein Eklat, zumal das Team in der Gruppenphase ausschied. Frankreich fühlte sich vor aller Welt gedemütigt von seinen Spielern, deren Spitzengehälter regelmäßig Stoff für Debatten liefern. Die Züge einer Staatsaffäre erhielt das Drama, als der damalige Präsident Nicolas Sarkozy den Stürmer Thierry Henry zum Rapport in den Élysée-Palast einbestellte. Der französische Fußball war am Boden, und er erschien vielen wie das Sinnbild einer verdrossenen, krisengeplagten Gesellschaft ohne Selbstvertrauen. Manche zogen gar Vergleiche zwischen dem Autoritätsverlust des verhassten Domenech und Präsident Sarkozy, der seine Landsleute ebenfalls nicht zu motivieren wusste.

Das Trauma von Südafrika wirkt nach. Auch deshalb ist das Abschneiden der Équipe Tricolore jetzt so wichtig - für Frankreich als Gastgeber der Europameisterschaft 2016 ebenso wie für Domenechs Nachfolger Laurent Blanc. Man erwartet motivierte Auftritte der Mannschaft als Beweis für ihre Runderneuerung, auch wenn einige der damals Beteiligten wieder mitspielen, darunter Franck Ribéry und Patrice Evra.

Die These vom Fußball als Spiegel der Gesellschaft etablierte sich 1998, als die Franzosen vor heimischem Publikum den Weltmeistertitel holten und der Mythos der "black-blanc-beur"-Mannschaft entstand: schwarze, weiße und arabischstämmige Teamspieler als Vorbild für gelungene Integration im Einwanderungsland Frankreich. Wenn Multikulti im Sport so prima funktionierte, warum dann nicht auch in der Gesellschaft? Zinedine Zidane, Sohn algerischer Einwanderer, gehört bis heute zu den beliebtesten Franzosen. Zwei Jahre lang räumte die verklärte Équipe Tricolore Siege ab, bis sie in Mittelmäßigkeit zurückfiel. Im Oktober 2001 geriet die Vision vom Fußball als Ausdruck der Völkerverständigung endgültig zur Illusion: Beim symbolisch aufgeladenen Spiel gegen Algerien in Paris wurde erst die Marseillaise ausgepfiffen, dann stürmten aufgebrachte Fans das Spielfeld.

Lilian Thuram, einem der 1998er Helden, der heute gegen Rassismus kämpft, erscheint die Parallele zwischen Fußball und Gesellschaft ohnehin zu gewollt. Die Mannschaft sei keine Mikro-Gesellschaft, sagt er, fast alle Spieler entstammten demselben Milieu. Der Sport-Journalist Joachim Barbier stellt sogar die These auf, Frankreich und seine Eliten hätten den Fußball nie verstanden - er sei eben nicht moralisch oder gar vorbildlich, sondern nur ein Spiel. "Fußball ist nicht politisch korrekt, und genau dafür sollten wir ihn lieben", meint Barbier. Die Franzosen aber lieben ihre "Blauen" nur, wenn sie siegen.

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