Fall Amri zeigt fehlenden Charakter in der Politik

Berlin · Analyse Zwölf Menschen starben beim Attentat von Berlin, weil einige Behörden auf klare Warnsignale nicht reagierten. Verantwortlich will aber keiner sein.

Rücktritte machen die Toten des Lkw-Anschlags auf den Berliner Weihnachtsmarkt nicht wieder lebendig, klar. Auch hilft die Debatte über die Schuldfrage nicht weiter. Schuld im eigentlichen Sinne ist nur Anis Amri, der Terrorist, der im Dezember zwölf Menschen tötete und Dutzende verletzte - und der ist auch tot. In Nordrhein-Westfalen kann man im Untersuchungsausschuss vernehmen, wen man will und so lange man will, es wird keine Schuldigen und keine Rücktritte geben. Sowieso nicht im Landtagswahlkampf, der dort gerade Fahrt aufnimmt. In der Stadt Berlin gibt es nicht einmal einen Untersuchungsausschuss zu den Pannen im Vorfeld des Anschalgs. Und auch der Bundesminister des Innern hat mit all dem angeblich nur entfernt zu tun.

Die Sicherheitsbehörden in Nordrhein-Westfalen, Berlin und des Bundes hatten den Tunesier auf dem Schirm. Auch als Gefährder. Aber sie reagierten nicht ausreichend, aus unterschiedlichen, teils sogar nachvollziehbaren Gründen. Sie haben versagt. Die Verantwortung dafür schieben sie nun so lange hin und her, bis keiner mehr verantwortlich ist. Dass der Weihnachtsmarkt trotz des Nizza-Anschlages, bei dem im Juli 2016 mit einem Lkw 86 Menschen totgefahren wurden, nicht abgesichert wurde (so wie trotz des Westminister-Anschlages auch heute der von Touristen bevölkerte Pariser Platz am Brandenburger Tor nicht gegen Autos abgesichert ist), kommt hinzu. Unklare Zuständigkeiten in Berlin, heißt es dazu. Da kann man irgendwie nichts machen.

So verläuft sich alles im Nirgendwo. Das aber ist ein Ergebnis, das als einziges absolut nicht akzeptabel ist. Zwölf Menschen sind tot, zwölf, die heute noch leben würden, wenn irgendwo in Behörden anders geschaltet worden wäre. Aber alle Verantwortlichen machen ungerührt weiter. Für die Angehörigen ist das zum verrückt werden.

Es ist lange, lange her, da gab es für so etwas einen Ausweg. Er diente nicht nur der symbolischen Reinigung, sondern auch der tatsächlichen Verbesserung von Zuständen, weil nach einem Vorfall etwas politisch Gravierendes passierte. Man nannte es die Übernahme von Verantwortung.

Diese Lösung verlangt keine Beweise, sondern Charakter. Es gab im damaligen West-Berlin zum Beispiel eine sehr beliebte Jugendsenatorin namens Ella Kay (SPD). Im Jahr 1962 starben in einer Pflegefamilie zwei Kinder an Misshandlungen. Kay war dafür nicht zuständig, sondern die Bezirksverwaltung. Die Politikerin trat dennoch zurück, weil es in ihrem "Verantwortungsbereich" passiert war, wie sie seinerzeit sagte. 1993 gab der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU) sein Amt auf, weil der Terrorist Wolfgang Grams in Bad Kleinen auf der Flucht getötet worden war. Wohlgemerkt, ein Terrorist. Aber es stand zeitweise der Verdacht eines gezielten Todesschusses im Raum, der sich später nicht bewahrheitete. Seiters sagte: "Wer soll die politische Verantwortung übernehmen, wenn nicht der Minister?"

Ja, wer, wenn nicht der? Warum sind sie im Fall Amri jetzt alle in der Verantwortungs-Versenkung verschwunden, die wichtigen Herren Minister in NRW, Berlin und im Bund? Zwölf Menschen sind tot und müssten es nicht sein. Nicht nur die Angehörigen könnten darüber verrückt werden.

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