Europa schreitet mit der Türkei, aber gegeneinander

Brüssel · Sie sind keine dicken Freunde. Aber sie brauchen sich: Europa und die Türkei haben am Sonntag ihrer abgekühlten Beziehung so etwas wie neue Leidenschaft gegeben. Auch wenn der Schlüssel zur Lösung des Flüchtlingsproblems nicht allein in Ankara liegt, so kann die türkische Führung doch viel zu einer Milderung des Drucks beitragen.Aber anders als noch vor wenigen Wochen ist Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan das Erpressungspotenzial abhanden gekommen.

Seit dem Zerwürfnis mit Russland wegen des abgeschossenen Bombers, das Präsident Wladimir Putin gestern mit seiner Gesprächsverweigerung Richtung Erdogan nochmal betonte, muss das Land am Bosporus nicht nur mit den Folgen dieses fulminanten politischen Fehlers für das eigene Ansehen kämpfen. Es wird auch die absehbaren wirtschaftlichen Sanktionen zu spüren bekommen.

Das wertet die EU für die Türkei auf, weil Ankara nicht mehr länger durch Geschäfte mit Russland ausgleichen kann, was ihr die EU verweigert. So kommt den Angeboten aus Brüssel , die als Gegenleistung für mehr Mithilfe gegen den Flüchtlingsstrom gedacht sind, eine große Bedeutung zu. Zwar bleibt Ankara auch weiter auf mehreren Millionen Kriegsflüchtlingen sitzen, muss die Lasten aber nicht länger alleine tragen. Und es bekommt dafür, kaum dass die russische Perspektive zerstört wurde, eine europäische. Am Sonntag ist viel in Bewegung geraten. Das gilt allerdings auch für die EU. Ihre Differenzen weiten sich aus. Die unterschiedlichen Lager zwischen Ländern, die Flüchtlinge aufnehmen und integrieren wollen, und denen, die diese Schritte blockieren, entzweit mehr als nur eine Meinungsverschiedenheit.

Hier ist eine Kluft entstanden, die mit politischen Tauschgeschäften und finanzieller Erpressung weiter vertieft wird. Dass Berlin die Drei-Milliarden-Hilfe für Ankara ausgerechnet von jenen Fördermitteln abzweigen will, die eigentlich für den Aufbau der widerspenstigen Ost-Partner gedacht waren, ist ein schwerer Schlag. Auch wenn solche Gegengeschäfte in der Politik durchaus üblich sind, in diesem Fall mussten sie von den EU-Partnern als Erpressung verstanden werden.

Nun war die EU immer eine Union, in der nicht nur miteinander, sondern auch gegeneinander gekämpft wurde. Aber die jetzige Krise enthält tatsächlich Spaltpotenzial. Schengen existiert ohnehin schon nur noch auf dem Papier, an der östlichen Grenze der Union bahnt sich eine humanitäre Katastrophe an. Lösungen haben in Europa immer Zeit gebraucht. Manchmal musste das Wasser ziemlich lange stetig tropfen, ehe der Stein ausgehöhlt war. Dieses Mal ist vieles anders. Die Front der Blockierer weicht nicht auf, sie verhärtet sich.

Vor allem im Osten weigert man sich beharrlich, Solidarität zu zeigen, weil dies wohl auch als Sieg von Bundeskanzlerin Angela Merkel verstanden werden könnte. Man folgt ihr nicht länger widerspruchslos. Und noch ist nicht klar, wer die frühere Rolle Merkels als integrierender Moderator übernehmen könnte. Die Risse könnten beim nächsten Treffen in knapp drei Wochen zu einer echten Zerreißprobe werden. Dann stehen die britischen Reformwünsche auf der Tagesordnung. Es gibt genügend Mitgliedstaaten, die nur darauf warten, London an die Seite zu springen, weil sie unzufrieden mit Brüssel sind. Die EU steht nicht nur vor einer Krise, sie steckt mittendrin.

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