Etwas mehr Gerechtigkeit

Das Reizthema ist weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden. Zweifellos ein gutes Zeichen, wenn man sich in Erinnerung ruft, mit welchen Horror-Szenarien die Einführung des Mindestlohns zu Jahresbeginn begleitet wurde.

Allen voran sah das Münchner Ifo-Institut gleich 900 000 Jobs den Bach runtergehen. In der Praxis trat eher das Gegenteil ein: Zwölf Monate nach Einführung der umstrittenen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro gibt es weniger Arbeitslose und mehr Arbeitsplätze denn je.

Allein bis September entstanden rund 688 000 neue sozialversicherungspflichtige Stellen. Und das nicht trotz, sondern offenbar auch wegen des Mindestlohns. Denn gleichzeitig ging die Zahl der Mini-Jobs deutlich zurück, was darauf hindeutet, dass zumindest ein Teil davon in Vollzeitstellen umgewandelt wurde. Ausgerechnet im Gastgewerbe, beim Wachschutz, aber auch in Callcentern verzeichnet die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung nämlich den stärksten Aufwind. Genau in diesen Bereichen wurden zuvor häufig Hungerlöhne gezahlt. Kurzum, der Mindestlohn ist eine Erfolgsgeschichte. Auch weil er die Arbeitswelt ein kleines bisschen gerechter gemacht hat.

Freilich herrschen dafür günstige Rahmenbedingungen. In Zeiten eines wirtschaftlichen Niedergangs wäre der Mindestlohn kaum durchsetzbar gewesen. Nun ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland zwar nicht üppig, aber stetig, was übrigens aus Sicht der meisten EU-Staaten geradezu paradiesisch klingt. Auch für 2016 erwarten Experten ein Plus des deutschen Bruttosozialprodukts zwischen 1,5 und zwei Prozent. So gesehen könnten die guten Konjunkturdaten auch Arbeitsplatzverluste verdecken, die im Billiglohnbereich entstanden sind. Schließlich weiß keiner genau, ob alle vormaligen Mini-Jobber tatsächlich weiterhin im Arbeitsleben stehen. Doch das ist kein Grund, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Wer Vollzeit arbeitet, muss davon wenigstens einigermaßen leben können - gerade in einer hoch entwickelten Wirtschaft wie in Deutschland.

Absehbar ist, dass die Diskussion um den Mindestlohn trotzdem nicht gänzlich verstummen wird. Dafür dürften schon die vielen Flüchtlinge sorgen, die es in den Arbeitsmarkt zu integrieren gilt. Änderungen am Mindestlohngesetz wären gleichwohl unsinnig. Schließlich gibt es für die Unternehmen schon jetzt die Möglichkeit, von der Lohnuntergrenze abzuweichen, zum Beispiel bei der Vergütung bestimmter Praktika. Und Langzeitarbeitslose haben zunächst ebenfalls keinen Anspruch auf die 8,50 Euro. An einem zu hohen Lohn kann der Job-Einstieg also nicht scheitern. Diese Regelungen sollten ausreichen, um Flüchtlingen den Start am Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Auch hier taugt der Mindestlohn nicht als Buhmann.

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