Erneuerung, Ernüchterung und ein starker grüner Chef

Stuttgart · Einen „Politikwechsel“ wollte Grün-Rot in Baden-Württemberg einläuten. So war es plakatiert im Wahljahr 2011.

Und tatsächlich ist viel passiert zwischen Main und Bodensee. Ob Staatsakt am Tag der deutschen Einheit, Feste oder Preisverleihungen: Das Land präsentiert sich moderner und lockerer als früher, garniert auch mal mit Jazzcombos und Dancegroups statt Klassik und Blasmusik. Die Regierung unter Ministerpräsident Winfried Kretschmann hat das etwas angestaubte Image des wirtschaftlich starken, aber etwas spießig eingestuften Landes runderneuert. Nach der CDU-Ära Mappus empfanden das selbst Konservative als Wohltat.

Mehrere Reformen versprach Grün-Rot. Der Umbau der Schullandschaft hin zu einer Zwei-Säulen-Struktur wurde angegangen - eines der zentralen Themen bei zurückgehender Kinderzahl. Auch eine Polizeireform wurde angepackt, ein echtes Thema im ländlichen Raum. Der erste Nationalpark in Baden-Württemberg entsteht. Dem Land geht es gut, selbst die Wirtschaft hat sich mit den Neuen in der Regierung arrangiert: Porsche lädt den grünen Verkehrsminister oder den Regierungschef zur Probefahrt und lobt sogar den Kenntnisreichtum des Umweltministers. Auch das war man lange nicht mehr gewohnt.

Nach zweieinhalb Jahren ist in Baden-Württemberg dennoch Ernüchterung eingekehrt. Bei den zehn Millionen Bürgern, aber wohl auch bei den Regierenden selbst. Sie gingen, nach 58 Jahren CDU-Vorherrschaft überraschend in Verantwortung katapultiert, vergleichsweise naiv ans Werk. Sie wollten manches besser und unkonventionell machen. Die "Politik des Gehörtwerdens" wurde zu dem am meisten zitierten, aber auch karikierten Spruch im Südwesten. Das demokratisch festgezurrte und durchregierte Repräsentanz-System hatte die Bürger zu lange auf ihre Plätze verwiesen, um in ihnen über Nacht den sich einmischenden Citoyen zu wecken.

Es lief mit dem Gehörtwerden wie in der Bildungspolitik: Dort wurden die Gemeinschaftsschulen eingeführt und die Grundschulempfehlungen abgeschafft, ohne zuvor eine regionale Schulplanung anzustoßen. Auch die Bürgerbeteiligung wurde verheißen, bevor es die Instrumente gab. Also wollten alle alles, was sie forderten, auch umgesetzt wissen. Mit "Stuttgart 21" zahlte die Regierung reichlich Lehrgeld. Grün-Rot scheiterte in den ersten zweieinhalb Jahren deshalb mehr an seiner pathos-trunkenen Rhetorik als an seiner Politik.

Eine aktuelle Umfrage gibt deshalb widersprüchliche Signale: Eine Mehrheit der Baden-Württemberger ist zufrieden mit der Arbeit von Grün-Rot, auch wenn dieselbe Mehrheit Chaos in der Bildungspolitik geißelt und den Vize-Premier der SPD mit miesen Noten belegt. Ministerpräsident Kretschmann aber hat Zustimmungswerte wie weiland CDU-Regierungschef Erwin Teufel vor mehr als zehn Jahren.

So schlecht kann es die ökosoziale Koalition bislang nicht gemacht haben, wenn die Grünen weiter für 22 Prozent gut sind. Jürgen Trittin, der noch immer gegen seinen "Parteifreund" Kretschmann schießt, müsste langsam nachdenklich werden. Im Südwesten kommt Kretschmanns Realo-Kurs hervorragend an. Dort wünscht man sich, dass er viel mehr auf den Tisch haut - gegen Berlin, gegen Trittin, gegen die SPD. Ohne ihn, die zentrale grüne Integrationsfigur, das ist die Erkenntnis zur Halbzeit, bliebe der grün-rote Politikwechsel aber wohl eine Eintagsfliege.

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