Erdogans Welt

Als Verteidiger der Demokratie und des Rechtstaates hat sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan am späten Montagabend in einem ausführlichen ARD-Interview präsentiert. Man muss ihm zugestehen, dass eine Regierung jedes Recht hat, sich gegen einen Putschversuch zur Wehr zu setzen. Doch in Erdogans Welt geht es um mehr als um die Abwehr eines Staatsstreiches. Wenn Erdogans Regierung davon spricht, dass sich der Ausnahmezustand nicht gegen das "Volk" richte, dann meint sie damit ihre eigenen Anhänger. Denn für Regierungsgegner bricht mit dem Ausnahmezustand eine gefährliche Phase an. Kritische Stimmen passen nicht in die neue Zeit, die Erdogan einläuten will. Druck auf Andersdenkende gab es in der Türkei schon länger - doch Tausende Beleidigungsklagen , die Erdogan gegen Journalisten, Akademiker und Aktivisten anstrengte, wirken im Rückblick schon fast harmlos.

Seit die Regierung ihre Gegenoffensive einleitete und erst recht seit Verhängung des Ausnahmezustandes werden die Einschränkungen der Meinungsfreiheit aus der Zeit vor dem Putschversuch von einem neuen, größeren Thema überlagert. Erdogan greift nach einer historischen Veränderung. Es geht um eine Weichenstellung für die Türkei, die das Land für Jahrzehnte prägen dürfte.

Der Präsident will die Gunst der Stunde nutzen, um die Vorherrschaft der religiös-konservativen Türken zu zementieren. Bisher stellte dieses Wählersegment - die Gefolgschaft der AKP - die strukturelle Mehrheit bei Wahlen. Nun soll es Mitgliedern anderer gesellschaftlicher Gruppen ohne klare Loyalität zur AKP unmöglich gemacht werden, im Staat etwas zu werden.

Dieser radikale Umbau ist letztlich der Grund für die Massenentlassungen und -festnahmen. Die Betroffenen verstehen die Botschaft: Als die Polizei in der Hauptstadt Ankara vor einigen Tagen in einer Wohnsiedlung für Richter und Staatsanwälte anrückte, um nach Gülen-Anhängern zu suchen, musste gleichzeitig auch die städtische Kanalreinigung ran: Verängstigte Juristen hatten bei Beginn der Polizeiaktion so viele Dokumente in die Toiletten gespült, dass die Abflüsse verstopft waren.

Begleitet wird die Entwicklung von Orwell'scher Rhetorik. Die Regierung setzt die Europäische Menschenrechtskonvention außer Kraft, erklärt aber gleichzeitig, es würden keine Abstriche bei demokratischen Werten gemacht. Angesichts von Kritik verweist Ankara auf Frankreich, wo nach den Terroranschlägen vom vergangenen Herbst ebenfalls der Ausnahmezustand herrscht. Beifall erhält Erdogan aber lediglich vom US-Populisten Donald Trump , der den türkischen Präsidenten für seine entschlossene Reaktion nach dem Putschversuch lobte. Allein das sollte zu denken geben.

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