Erdogans Bruch mit Europa

Nicht zum ersten Mal schickt sich Recep Tayyip Erdogan aus innenpolitischen Motiven heraus an, wichtige EU-Normen über Bord zu werfen. Vor der Aufnahme der EU-Beitrittsgespräche seines Landes im vergangenen Jahrzehnt brachte Erdogan plötzlich den Gedanken ins Spiel, den Ehebruch unter Strafe zu stellen. Er warb damit um konservative Kreise, ließ das Vorhaben aber bald wieder in der Schublade verschwinden.

Derzeit redet Erdogan von der Wiedereinführung der Todesstrafe , die er möglicherweise mit der Volksabstimmung über das Präsidialsystem koppeln will. Auch diesmal geht es ihm um die Stimmen rechtskonservativer Türken - doch die Folgen dürften wesentlich weitreichender sein als bei der Ehebruch-Debatte. Mit der Rückkehr zur Todesstrafe riskiert Erdogan den Rauswurf seines Landes aus dem Europarat und den Abbruch der EU-Beitrittsgespräche.

Ähnliches gilt für das jüngste Vorgehen gegen die Oppositionspresse. Die Festnahmen und Durchsuchungen bei der Zeitung "Cumhuriyet" am Montag zeigen, dass Erdogan keinen Widerspruch mehr duldet. Seine Helfer in der Justiz schrecken nicht vor lächerlichen und absurden Begründungen zurück, um Gegner des Präsidenten aus dem Verkehr zu ziehen. Ausgerechnet "Cumhuriyet", das Bollwerk des Säkularismus , soll den islamischen Prediger Fethullah Gülen unterstützt haben. In einer normalen Demokratie würde ein solches Vorgehen der Behörden selbst zu einem Fall für die Justiz; Politiker und Medien würden den zuständigen Staatsanwälten die Leviten lesen. In der Türkei reibt sich die Erdogan-treue Presse dagegen die Hände.

Die Reaktion Europas auf die immer offenere Abkehr vom Rechtsstaat ist Erdogan egal. Er ist sicher, dass EU und USA sein Land mehr brauchen als umgekehrt - wegen der Flüchtlingskrise und wegen des Kampfes gegen den Islamischen Staat. Die Türkei wandelt sich ohnehin immer mehr zu einem Einparteien-Staat. Gut möglich, dass Erdogan sein Ziel erreicht und sich im Jahr 2017 zum Alleinherrscher ausrufen lassen kann.

Allerdings wirft der einst als Reformer gefeierte Erdogan sein Land damit um Jahrzehnte zurück. Ansätze für eine pluralistische Gesellschaft werden erstickt, die Opposition wird kaltgestellt, Probleme wie der Kurdenkonflikt als reines Sicherheitsproblem betrachtet. Es ist möglich, dass Erdogan die Todesstrafen-Debatte wieder nur instrumentalisiert, ohne das Projekt zu verwirklichen. Doch politisch zeigen Erdogans Ruf nach dem Strang und seine Drangsalierung der Medien eindeutig Wirkung: Die zwischenzeitlich in Europa mit großer Leidenschaft geführte Diskussion über einen Beitritt des großen muslimischen Landes in die EU hat sich erst einmal erledigt.

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