Erdogan stürzt Türkei in den Zweifrontenkrieg

Istanbul/Washington · Die türkische Regierung führt im eigenen Land sowie in den Nachbarstaaten Syrien und Irak einen Zweifrontentkrieg. Dabei geht es Präsident Recep Tayyip Erdogan darum, eine von ihm beobachtete Stärkung extremistischer Kurden zu stoppen und gleichzeitig einen befürchteten Machtzuwachs des Iran zu verhindern. Erdogans Politik führt das Land noch tiefer in den Strudel der eskalierenden Konflikte an den türkischen Südostgrenzen hinein.

Die Festnahme von Gültan Kisanak, der Bürgermeisterin der Kurden-Metropole Diyarbakir im Südosten der Türkei, ist eine offene Kampfansage an die politischen Vertreter der Minderheit. Vor einem Jahrzehnt machte Erdogan Schlagzeilen mit der Erkenntnis, dass der Kurdenkonflikt nur mit politischen Mitteln überwunden werden könne. Heute setzt er ganz auf Härte - auch weil die Hardliner bei der Rebellengruppe PKK im vergangenen Jahr mit einer neuen Runde der Gewalt begannen.

Mit ähnlicher Entschlossenheit geht Erdogan gegen die mit der PKK verbündeten Kurden in Syrien vor. Türkische Panzer und Ankara-treue syrische Rebellen rücken im Norden Syriens weiter vor; Erdogan kündigte jetzt die Einnahme der Stadt Al-Bab an, die rund 30 Kilometer südlich der türkischen Grenze liegt. Damit sollen weitere Gebietsgewinne der syrischen Kurden unterbunden werden, die bei Erdogan im Verdacht stehen, in der Gegend einen eigenen Staat gründen zu wollen.

Gleichzeitig mischt sich die Türkei trotz des ausdrücklichen Neins der irakischen Regierung in Bagdad in die Offensive auf den Islamischen Staat (IS) im nordirakischen Mossul ein. Dabei schwingen neo-osmanische Gedanken mit, die bei den türkischen Nachbarn mit Beunruhigung wahrgenommen werden: "Mossul war unser", erklärte Erdogan erst kürzlich. Dasselbe gelte auch für die irakische Ölstadt Kirkuk.

Doch die eigentliche Motivation für das türkische Engagement in Mossul liegt nicht in einem Traum von der Wiederrichtung des Osmanischen Reiches. Erdogans Regierung beklagt seit langem den wachsenden Einfluss des Iran im Irak und befürchtet, dass die Iraner und ihre irakischen Partner nach der Befreiung Mossuls vom IS dort eine schiitische Vorherrschaft in einem vorwiegend sunnitischen Gebiet errichten wollen; Mossul ist nur rund hundert Kilometer von der türkischen Grenze entfernt.

Während der türkische Staat sein eigenes Verhalten in Südostanatolien sowie in Syrien und im Irak als notwendigen Beitrag zur Landesverteidigung sieht, erkennen viele Kurden sowie die Nachbarn darin Zeichen einer Aggression Ankaras. Zwar sind einige Sorgen der Türkei durchaus nachvollziehbar. Doch fehlt bei Erdogans Politik eine erkennbare Vision für die Zukunft: Die Festnahme kurdischer Bürgermeister wird den Kurdenkonflikt nicht lösen, sondern verschärfen; die Stationierung türkischer Truppen in Syrien und im Irak kann nicht ewig dauern.

Früher oder später wird Ankara mit den Kurden im eigenen Land und in Syrien sowie mit den Regierungen im Irak und im Iran über nicht-militärische Lösungen reden müssen. Erdogan ist ganz offensichtlich der Ansicht, dass er seinem Land eine günstige Ausgangsposition sichert, wenn er mit seiner Armee Fakten schafft. Möglicherweise erreicht er aber das Gegenteil.

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